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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Umschläge des Finanzamtes, die sich zwischen Christie-Katalogen und alten Konzertprogrammheften auf dem Tisch im Flur stapelten (Steuerbescheid, Erste Mahnung, Zweite Mahnung), konnte Hobie sich nicht dazu durchringen, den Laden länger als eine halbe Stunde am Stück zu öffnen, es sei denn, ein Bekannter kam zu Besuch. Und wenn es für seine Freunde Zeit wurde zu gehen, scheuchte er oft auch die eigentlichen Kunden hinaus und schloss den Laden wieder ab. Wenn ich vom College nach Hause kam, hing fast immer das » Geschlossen « -Schild in der Tür, während Leute durchs Schaufenster spähten. Und wenn er es doch schaffte, den Laden einmal für ein paar Stunden geöffnet zu halten, hatte er die schlimme Angewohnheit, vertrauensvoll nach hinten zu gehen, um sich eine Tasse Tee zu kochen, derweil er die Tür offen und die Kasse unbewacht ließ. Obwohl sein Transporthelfer Mike so vorausschauend gewesen war, die Silber- und Schmuckschränke abzuschließen, waren schon eine Reihe von Majolika- und Kristall-Objekten aus dem Laden gewandert, und als ich an dem fraglichen Tag unerwartet nach oben kam, ertappte ich eine Fitness-Studio-trainierte Mom im lässigen Freizeit-Look, die aussah, als käme sie gerade aus einem Pilates-Kurs, dabei, wie sie einen Briefbeschwerer in ihrer Tasche verschwinden ließ.
    » Das macht achthundertfünfzig Dollar « , sagte ich. Sie erstarrte und blickte entsetzt auf. In Wahrheit kostete das Stück zwei Dollar fünfzig, doch sie reichte mir wortlos ihre Kreditkarte und ließ mich den Preis buchen– wahrscheinlich die erste profitable Transaktion, die seit Weltys Tod in dem Laden stattgefunden hatte, denn Hobies Freunde (seine wichtigsten Kunden) wussten nur zu gut, dass sie ihn immer zu kriminellen Rabatten auf seine ohnehin zu niedrigen Preise überreden konnten. Mike, der hin und wieder ebenfalls im Laden aushalf, hob alle Preise unterschiedslos drastisch an, was zur Folge hatte, dass er nur sehr wenig verkaufte.
    » Gut gemacht! « , hatte Hobie gesagt und im grellen Licht seiner Arbeitslampe freudig geblinzelt, als ich nach unten gegangen und ihn von meinem großen Verkauf erzählt hatte (laut meiner Version eine silberne Teekanne. Es sollte sich nicht so anhören, als hätte ich die Frau unverhohlen beraubt, außerdem wusste ich, dass er sich nicht für den, wie er es nannte, Kleinkram interessierte, der, wie ich durch die Lektüre von Antiquitäten-Büchern gelernt hatte, einen wesentlichen Teil des Inventars des Ladens ausmachte). » Scharfsichtiger kleiner Kerl. Welty hätte dich angenommen wie einen auf seiner Türschwelle ausgesetzten Säugling, ha! Interessiert sich für sein Silber! «
    Von da an machte ich es mir zur Gewohnheit, nachmittags mit meinen Lehrbüchern oben im Laden zu sitzen, während Hobie unten in seiner Werkstatt arbeitete. Anfangs nur zum Spaß– Spaß, der meinem öden Studentenleben mit Kaffees in der Cafeteria und Vorlesungen über Walter Benjamin schmerzlich abging. In den Jahren seit Weltys Tod hatte Hobart und Blackwell offensichtlich den Ruf eines leicht zu bestehlenden Ladens bekommen, und der Kitzel, die gut gekleideten Diebe und Langfinger auf frischer Tat zu ertappen und ihnen riesige Summen abzupressen, war beinahe wie Ladendiebstahl, nur umgekehrt.
    Aber ich lernte auch eine Lektion: eine Lektion, die erst nach und nach sackte, die jedoch tatsächlich die wichtigste Wahrheit im Herzen der Branche war. Es war ein Geheimnis, das einem niemand verriet, man musste selbst darauf kommen: nämlich, dass es so etwas wie einen » korrekten « Preis im Grunde nicht gab. Objektiver Wert– Listenpreis– war bedeutungslos. Wenn ein Kunde ahnungslos und mit Geld in der Hand hereinkam (und das taten die meisten), spielte es keine Rolle, was in den Büchern stand oder was die Experten sagten oder zu welchem Preis ähnliche Objekte kürzlich bei Christie’s verkauft worden waren. Ein Objekt– jedes Objekt– war so viel wert, wie jemand bereit war– oder überredet werden konnte–, dafür zu zahlen.
    Deshalb begann ich, durch den Laden zu gehen und einige Schilder zu entfernen (damit der Kunde mich nach dem Preis fragen musste), während ich andere Objekte neu auszeichnete– nicht alle, aber einige. Durch systematisches Ausprobieren fand ich heraus, dass der Trick darin bestand, etwa einen Viertel der Preise niedrig zu lassen und den Rest drastisch hinaufzusetzen, manchmal um vier- oder fünfhundert Prozent. Jahre abnormal niedriger Preise hatten einen

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