Der Distelfink
Licht und beleuchtete wunderbare Höhlen, von deren Existenz ich gar nichts gewusst hatte, Ausblicke, die es anscheinend gar nicht gab, außer in Beziehung zu ihr. Wieder und wieder hörte ich ihren geliebten Arvo Pärt, um ihr auf diese Weise nahezukommen, und sie brauchte nur einen kürzlich gelesenen Roman zu erwähnen, und ich besorgte ihn mir ungeduldig, um durch eine Art Telepathie in ihren Gedanken zu sein. Gewisse Objekte, die durch den Laden wanderten– ein Pleyel-Klavier oder eine eigenartige, kleine, zerkratzte, russische Kamee–, schienen greifbare Artefakte des gemeinsamen Lebens, das sie und ich, rechtmäßig, führen sollten. Ich schrieb ihr dreißigseitige E-Mails, die ich löschte, ohne sie abzuschicken, und hielt mich stattdessen an eine mathematische Formel, die ich entwickelt hatte, um mich nicht zu sehr zum Narren zu machen: immer drei Zeilen kürzer als die letzte E-Mail, die sie geschickt hatte, immer einen Tag länger warten, als ich auf ihre Antwort gewartet hatte. Manchmal führte ich im Bett– in meinen seufzenden, betäubten, erotischen Tagträumen– lange offene Gespräche mit ihr: wir sind unzertrennlich, beteuerten wir uns (kitschig) in meiner Fantasie, uns kann niemand trennen. Wie ein Stalker hütete ich eine Locke herbstlaubfarbenes Haar, die ich aus dem Müll geborgen hatte, nachdem sie sich im Bad ihren Pony geschnitten hatte– und, noch unheimlicher, ein ungewaschenes Hemd, das mich mit seinem nach Heu duftenden Vegetarier-Duft immer noch berauschte.
Es war hoffnungslos. Mehr als hoffnungslos: erniedrigend. Wenn sie zu Besuch war, die Tür meines Zimmers halb offen stehen zu lassen, eine nicht besonders subtile Einladung. Selbst die anbetungswürdige Art, wie sie beim Gehen ein Bein nachzog (wie die kleine Meerjungfrau, zu zerbrechlich, um an Land zu laufen), trieb mich zum Wahnsinn. Sie war der goldene Faden in allem, eine Linse, die die Schönheit vergrößerte, sodass die ganze Welt in Beziehung zu ihr und nur ihr allein wie gebannt war. Zweimal hatte ich versucht, sie zu küssen: einmal betrunken in einem Taxi; einmal am Flughafen, verzweifelt bei dem Gedanken, sie monatelang (oder womöglich jahrelang?) nicht wiederzusehen– » Tut mir leid « , sagte ich einen Moment zu spät.
» Ist schon okay. «
» Nein, wirklich, ich… «
» Hör zu « , niedliches unkonzentriertes Lächeln, » es ist okay. Aber mein Flug wird gleich aufgerufen « (was nicht stimmte). » Ich muss los. Pass auf dich auf, ja? «
Pass auf dich auf. Was um alles auf der Welt sah sie in diesem » Everett « ? Ich konnte nur denken, wie langweilig sie mich finden musste, wenn sie ein derart lauwarmes Weichei mir vorzog. Wenn wir irgendwann Kinder haben … obwohl er es nur im Scherz gesagt hatte, war mir das Blut in den Adern gefroren. Er war genau die Sorte Loser, die man sich mit Windeltaschen und gefütterten Babysachen vorstellen konnte… Ich haderte mit mir, nicht energischer gewesen zu sein, obwohl ich sie ohne zumindest ein winziges bisschen Ermutigung ihrerseits in Wahrheit nicht noch massiver hätte bedrängen können. Es war auch so schon peinlich genug: Hobies Taktgefühl, wenn ihr Name erwähnt wurde, die bemühte Ausdruckslosigkeit in seiner Stimme. Doch meine Sehnsucht nach ihr war wie eine schlimme Erkältung, die sich jahrelang hartnäckig hielt, obwohl ich die ganze Zeit überzeugt war, sie gleich überwunden zu haben. Selbst eine dumme Kuh wie Mrs. Vogel konnte es erkennen. Pippa hatte mir ja auch nie etwas vorgemacht– ganz im Gegenteil: Würde ich ihr etwas bedeuten, wäre sie nach New York zurückgekommen, anstatt nach dem Internat in Europa zu bleiben. Doch ich konnte nicht loslassen, aus welchem dummen Grund auch immer, ich konnte den Blick nicht vergessen, mit dem sie mich angesehen hatte, als ich Hobie zum ersten Mal besucht und an ihrem Bett gesessen hatte. Aus der Erinnerung an diesen Kindheitsnachmittag hatte ich jahrelang Kraft gezogen, als hätte ich damals– krank vor Einsamkeit und Sehnsucht nach meiner Mutter– eine Prägung erfahren wie ein verwaistes Tier, während sie in Wahrheit, ein Witz auf meine Kosten, benebelt von Beruhigungsmitteln und benommen von einer Kopfverletzung, ihre Arme um den erstbesten Fremden geschlungen hätte, der gerade hereinkam.
Ich bewahrte meine » Opios « , wie Jerome sie nannte, in einer leeren Tabaksdose auf. Ich zerdrückte eine der aufgesparten, guten alten Oxycontin-Tabletten auf der Marmorplatte der Kommode, legte mit
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