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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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hoffnungslos, besessen. Jahrelang war sie das Erste gewesen, woran ich mich erinnerte, wenn ich aufwachte, das Letzte, was mir durch den Kopf ging, bevor ich einschlief, und im Laufe des Tages drängte sie sich dauernd und jedes Mal mit einem schmerzhaften Schock in meine Gedanken: Wie viel Uhr war es in London? Ständig addierte und subtrahierte ich, rechnete den Zeitunterschied aus, checkte auf dem Handy, wie das Wetter in London war, 22.12Uhr, elf Grad Celsius und leichter Niederschlag, stand an der Ecke Greenwich und Seventh Avenue vor dem mit Brettern vernagelten St. Vincent’s auf dem Weg nach Downtown, um meinen Dealer zu treffen, und was war mit Pippa, wo war sie? auf der Rückbank eines Taxis, bei einem Essen, Trinken mit Leuten, die ich nicht kannte, in einem Bett, das ich nie gesehen hatte? Ich wollte unbedingt Fotos von ihrer Wohnung sehen, um meine Fantasien mit dringend benötigten Details auszustatten, war jedoch zu verlegen, sie danach zu fragen. Mit einem Stich dachte ich an ihr Bettzeug, wie sah es wohl aus, eine dunkle Schlafsaalfarbe, stellte ich mir vor, zerwühlt, ungewaschen, eine düstere Studentenhöhle, ihre sommersprossige Wange blass auf einem dunkelbraunen oder violetten Kissen, englischer Regen, der an die Fenster klopfte. Die Fotos von ihr, die im Flur vor meinem Zimmer in einer Reihe an der Wand hingen– viele verschiedene Pippas in jedem Alter–, waren eine tägliche Folter, immer unerwartet, immer neu. Und obwohl ich versuchte, nicht hinzuschauen, zuckte mein Blick doch jedes Mal scheinbar versehentlich zur Seite, und da war sie, lachte über den Witz eines anderen oder lächelte jemanden an, der nicht ich war, stets ein frischer Schmerz, ein Stich direkt ins Herz.
    Und das Seltsame war: Ich wusste, dass die meisten Menschen sie nicht mit meinen Augen betrachteten– wenn überhaupt fanden sie, dass sie ein wenig seltsam aussah mit ihrem unrunden Gang und ihrer gespenstischen Blässe eines Rotschopfs. Aus irgendeinem bescheuerten Grund hatte ich mir immer selbst damit geschmeichelt, ich sei der einzige Mensch auf der Welt, der sie wirklich zu schätzen wusste– lange Nase, schmale Wangen, ihre Augen (trotz der atemberaubenden Farbe) mit ihren blassen Wimpern irgendwie nackt– Huck-Finn-mäßig einfach. Aber all diese Facetten waren– für mich– so zart und besonders, dass sie mich zur Verzweiflung trieben. Bei einem schönen Mädchen hätte ich mich damit trösten können, dass sie außerhalb meiner Liga war; doch dass mich sogar ihre Schlichtheit dermaßen verfolgte und berührte, deutete– beunruhigend– auf eine Liebe hin, die maßgeblicher war als nur körperliche Anziehung, irgendeine Teergrube der Seele, in der ich mich jahrelang wälzen und eine Krankheit vortäuschen konnte.
    Denn im nicht zu erschütternden Kern meines Wesens war alle Vernunft nutzlos. Pippa war das vermisste Königreich, der unverletzte Teil meiner selbst, den ich mit meiner Mutter verloren hatte. Alles an ihr war ein Schneesturm der Faszination, von den antiquarischen Valentinskarten und bestickten chinesischen Jacken, die sie sammelte, bis zu ihren winzigen wohlriechenden Fläschchen von Neal’s Yard Remedies; ihr unbekanntes fernes Leben hatte für mich immer etwas Strahlendes und Magisches gehabt: Canton de Vaud, Suisse, 23 rue de Tombouctou, Blenheim Crescent W112 EE , möblierte Zimmer in Ländern, die ich nie gesehen hatte. Offensichtlich lebte dieser Everett ( » arm wie eine Kirchenmaus « – sein Ausdruck) von ihrem Geld oder genauer gesagt von Onkel Weltys Geld, das alte Europa, das sich vom jungen Amerika nährt, um eine Phrase zu benutzen, die ich in meinem Henry-James-Referat im letzten Semester am College verwendet hatte.
    Konnte ich ihm einen Scheck ausstellen, um ihn zu bewegen, sie in Ruhe zu lassen? An trägen kühlen Nachmittagen allein im Laden war mir der Gedanke durch den Kopf gegangen: Fünfzigtausend, wenn du sie heute Abend verlässt, hunderttausend, wenn du sie nie wiedersiehst. Geld war offenkundig ein Thema für ihn, während seines Besuches hatte er ständig nervös in seinen Taschen gekramt, an Geldautomaten angehalten, um jedes Mal zwanzig Dollar abzuheben, gütiger Gott.
    Es war hoffnungslos. Es war schlicht und absolut ausgeschlossen, dass sie Mr. Musikbibliothek auch nur halb so viel bedeuten konnte wie mir. Wir gehörten zusammen, dieser Gedanke hatte eine traumartige Richtigkeit und Magie, unbestreitbar, er durchflutete jeden Winkel meines Bewusstseins mit

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