Der Distelfink
vierten Mal fängst du an, dir zu wünschen, du wärst tot. « Mein Magen brodelte und zappelte wie ein Fisch an der Angel. Gliederschmerzen, Muskelzucken, ich konnte nicht still sitzen oder eine bequeme Position im Bett finden, und nachdem ich den Laden abends abgeschlossen hatte, saß ich mit rotem Gesicht niesend in der Wanne und nahm ein beinahe unerträglich heißes Bad, mit einem Glas Ginger Ale und einem fast geschmolzenen Eiswürfel an der Schläfe, während Poptschik– zu steif und ungelenk, um noch mit den Vorderpfoten auf dem Wannenrand zu stehen, wie er es früher gern getan hatte– auf der Badematte saß und mich ängstlich beobachtete.
Nichts von alldem war so schlimm wie befürchtet. Aber womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass das, was Mya den » Psycho-Kram « nannte, auch nur ansatzweise so heftig, so schier unerträglich zuschlagen würde: ein durchtränkter schwarzer Vorhang des Grauens. Mya, Jerome, meine Modepraktikantin– die meisten meiner Drogenfreunde waren schon länger dabei als ich–, und wenn sie high herumgesessen und übers Aufhören gesprochen hatten (was offenbar der einzige Zeitpunkt war, an dem sie es aushielten, darüber zu reden), hatten mich alle gewarnt, dass das Schlimme nicht die körperlichen Symptome seien, sondern die Depressionen, die selbst bei einer Baby-Sucht wie meiner anders seien als » alles, was ich mir je erträumt hätte « , und ich hatte höflich gelächelt, mich über den Spiegel gelehnt und gedacht: Wollen wir wetten?
Aber Depression traf es gar nicht. Es war ein freier Fall der Trauer und Abscheu weit jenseits alles Persönlichen: ein widerwärtiger, triefender Ekel über die ganze Menschheit und alles menschliche Streben von Anbeginn der Zeit. Die sich krümmende Widerlichkeit der biologischen Ordnung. Alter, Krankheit, Tod. Kein Entkommen für niemanden. Selbst die Schönen waren wie weiche Früchte kurz vor dem Verderben. Und trotzdem vögelten die Leute irgendwie immer weiter, setzten Kinder in die Welt, produzierten frisches Futter fürs Grab, brachten immer neue Wesen hervor, die leiden mussten, als ob es in irgendeiner Weise erlösend, gut oder sogar moralisch bewundernswert wäre, dass man weitere unschuldige Geschöpfe in dieses Spiel zerrte, in dem man nur verlieren konnte. Zappelnde Babys und schwerfällige, selbstzufriedene, Hormon-benebelte Mütter. Oh, ist er nicht süß? Aaahh. Kinder, die schreiend auf Spielplätzen herumrannten ohne eine Ahnung, welche zukünftigen Höllen sie erwarteten: langweilige Jobs, ruinöse Hypotheken, unglückliche Ehen, Haarausfall, künstliche Hüftgelenke, einsame Tassen Kaffee in einem leeren Haus und Kolostomiebeutel im Krankenhaus. Die meisten Menschen wirkten zufrieden mit der dünnen dekorativen Glasur und dem kunstvollen Bühnenlicht, die die grundlegende Scheußlichkeit des menschlichen Seins manchmal ein bisschen mysteriöser oder weniger abstoßend erscheinen ließen. Die Leute spielten Roulette oder Golf, pflanzten Gärten, handelten mit Aktien, hatten Sex, kauften neue Autos, machten Yoga, arbeiteten, beteten, renovierten ihre Häuser, regten sich über die Nachrichten auf, verhätschelten ihre Kinder, tratschten über die Nachbarn, studierten Restaurant-Kritiken, gründeten wohltätige Organisationen, unterstützten politische Kandidaten, nahmen an den U. S. Open teil, speisten und reisten, lenkten sich mit allen möglichen Spielzeugen und Geräten ab und überfluteten sich unaufhörlich mit Informationen und Texten und Kommunikation und Unterhaltung aus allen Richtungen, um vergessen zu machen: wo wir waren, was wir waren. Aber bei hellem Licht betrachtet ließ es sich auf keine Weise schönreden. Es war von oben bis unten beschissen. Zeit im Büro absitzen, gehorsam zwei Komma fünf Kinder Nachwuchs gebären, bei seiner Pensionierungsfeier höflich lächeln und dann an seinem Bettlaken kauen und im Pflegeheim an Pfirsichen aus der Dose ersticken. Es war besser, nie geboren worden zu sein– nie etwas gewollt, nie gehofft zu haben. Und in all meinem psychischen Strampeln und Wälzen hatte ich wiederkehrende Tagträume von Poptschik, der schwach und ausgezehrt mit bebendem Brustkorb auf der Seite lag– ich hatte ihn irgendwo allein zurückgelassen und vergessen, ihn zu füttern, er starb–, und selbst wenn er mit mir im Zimmer war, schreckte ich schuldbewusst hoch und warf den Kopf zur Seite, um nach ihm zu sehen. Dazwischen blitzten ebenso erschreckend Bilder von dem Bündel in dem
Weitere Kostenlose Bücher