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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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und gerettet zu werden, die Vergangenheit anders zu wiederholen, hatte sich irgendwie, gierig, auf Pippa fixiert. Es war eine ewige Labilität, eine Krankheit. Ich sah Dinge, die nicht da waren. Ich war nur einen Schritt entfernt von einem Trailer-Park-Sonderling, der ein Mädchen stalkte, das er in einem Einkaufszentrum beobachtet hatte. Denn in Wahrheit sahen Pippa und ich uns vielleicht zwei Mal im Jahr, wir schickten uns E-Mails und SMS , allerdings nicht besonders regelmäßig, und wenn sie in der Stadt war, liehen wir uns Bücher und gingen ins Kino. Wir waren Freunde, mehr nicht. Meine Hoffnung auf eine Beziehung mit ihr war vollkommen irreal, während mein andauerndes Elend und meine Frustration auf allzu schreckliche Weise real waren. Konnte man tatsächlich den Rest seines Lebens wegen einer unbegründeten, hoffnungslosen, unerwiderten Obsession vergeuden?
    Es war eine bewusste Entscheidung gewesen sich loszureißen. Es hatte meine letzten Reserven erfordert, wie ein Tier, das sich seine Gliedmaße abbeißt, um sich zu befreien. Irgendwie hatte ich es geschafft; und auf der anderen Seite war Kitsey und sah mich aus ihren amüsierten, stachelbeergrauen Augen an.
    Wir hatten Spaß zusammen. Wir verstanden uns. Es war ihr erster Sommer in der City, » in meinem ganzen Leben, überhaupt « – das Haus in Maine war fest verschlossen, Onkel Harry und die Cousinen waren auf die Îles de la Madeleine in Kanada gefahren– » und ich weiß nicht so recht, was ich hier allein mit Mum anfangen soll– oh bitte, unternimm etwas mit mir. Fährst du am Wochenende mit mir an den Strand, bitte? « Also fuhren wir an den Wochenenden nach East Hampton, wo wir im Haus von Freunden von ihr übernachteten, die den Sommer in Frankreich verbrachten, und in der Woche trafen wir uns nach meiner Arbeit Downtown, tranken lauwarmen Wein in Straßencafés, Abende im menschenleeren Tribeca mit flirrenden Bürgersteigen und heißen Dämpfen aus den U-Bahn-Schächten, die Funken von meiner Zigarettenspitze bliesen. Kinos waren immer kühl, genau wie die King-Cole-Bar und die Oyster Bar in der Grand Central Station. An zwei Nachmittagen in der Woche fuhr sie– mit Hut und Handschuhen, in Jack Purcells und hübschen Röcken, von Kopf bis Fuß mit verschreibungspflichtigem Sunblocker eingesprüht (weil sie wie Andy an einer Sonnenallergielitt) – in ihrem schwarzen Mini Cooper mit extra angefertigter Golfschlägerhalterung auf der Rückbank nach Shinnecock oder Maidstone. Anders als Andy war sie schwatzhaft und flatterig, lachte nervös und über ihre eigenen Witze, mit einem Anflug der zerstreuten Energie ihres Vaters, jedoch ohne die Distanziertheit, die Ironie. Man hätte sie pudern und ihr einen Schönheitsfleck ins Gesicht malen können, und sie wäre mit ihrer weißen Haut, ihren rosigen Wangen und ihrer stammelnden Fröhlichkeit als Hofdame in Versailles durchgegangen. Sie trug knappe Etuikleider aus Leinen, auf dem Land wiein der Stadt, dazu als Accessoire Vintage-Krokohandtaschen ihrer Großmutter, und in die peinigend hohen Christian Louboutins , in denen sie herumstolperte ( » Aua-Aua-Schuhe! « ), hatte sie ihren Namen und ihre Adresse geklebt für den Fall, dass sie sie zum Tanzen oder Schwimmen abstreifte und vergaß, wo sie sie gelassen hatte: silberne Schuhe, bestickte Schuhe, spitze Schuhe mit Bändern, tausend Dollar das Paar. » Erbsenzähler « , rief sie mir im Treppenhaus hinterher, wenn ich– um drei Uhr morgens, schwer beschwipst von Rum mit Cola– schließlich auf die Straße stolperte, um ein Taxi zu nehmen, weil ich am nächsten Tag arbeiten musste.
    Sie war diejenige, die mir den Heiratsantrag gemacht hatte. Auf dem Weg zu einer Party. Chanel No. 19, babyblaues Kleid. Wir kamen aus dem Haus in der Park Avenue– beide ein wenig angesäuselt von den Cocktails oben–, und in dem Moment, als wir aus der Tür auf die Straße traten, gingen die Laternen an, wir blieben wie angewurzelt stehen und sahen uns an: Waren wir das? Der Augenblick war so komisch, dass wir beide anfingen, hysterisch zu lachen– es war, als verströmten wir Licht, als könnten wir die Park Avenue beleuchten. Und als Kitsey meine Hand fasste und sagte: » Weißt du, was ich denke, was wir machen sollten, Theo? « , wusste ich genau, was sie sagen wollte.
    » Sollten wir? «
    » Ja, bitte! Meinst du nicht? Es würde Mummy so glücklich machen. «
    Wir hatten nicht einmal ein Datum festgelegt. Der Termin wurde ständig verschoben, wegen der

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