Der Distelfink
Hollywood-Treppe, übersät von Zigarettenstummeln. Sufi-Gesänge leierten leise im Hintergrund: All ā hu Allāhu Allāhu Haqq. Allāhu Allāhu Allāhu Haqq . An die Wand hatte jemand mit Kohle eine Serie von lebensgroßen Nackten gezeichnet, die die Treppe hinaufstiegen wie die Einzelbilder aus einem Film, und es gab kaum Möbel außer einem verschlissenen Futon und ein paar Stühlen und Tischen, die aussahen, als stammten sie vom Sperrmüll. An der Wand leere Bilderrahmen, ein Widderschädel. Im Fernseher flimmerte und flackerte ein Animationsfilm mit epileptischer Energie, geometrische Windmühlenflügel, mit Lettern und Realfilmbildern von Rennwagen zusammengeschnitten. Abgesehen vom Fernseher und der Tür, durch die die Blonde verschwunden war, kam das einzige Licht von einer Lampe, ein harter weißer Kreis auf geschmolzenen Kerzen, Computerkabeln, leeren Bierflaschen und Butanflaschen, Ölkreiden, in der Schachtel und einzeln, zahlreichen Œuvre-Katalogen, englischen und deutschen Büchern, darunter Nabokovs Verzweiflung und Heideggers Sein und Zeit mit abgerissenem Cover, Skizzenbüchern, Kunstbüchern, Aschenbechern und verbrannter Alufolie und einem schmutzigen Kissen, auf dem eine graugetigerte Katze lag. Über der Tür hing ein Geweih wie eine Trophäe in einer Jagdhütte im Schwarzwald und warf einen verzerrten Schatten, der sich unter der Decke ausbreitete und verzweigte wie etwas in einem bösen nordischen Märchen.
Nebenan unterhielten sich Leute. Die Fenster waren mit angetackerten Bettlaken verhüllt, dünn genug, um ein diffuses violettes Leuchten von der Straße hereinzulassen. Ich sah mich um, und Formen lösten sich aus der Dunkelheit und verwandelten sich auf so seltsame Art und Weise wie im Traum: Zum einen war der behelfsmäßige Raumteiler– ein Teppich, der im Stil von Mietskasernen an einer Wäscheleine von der Decke herabhing– bei näherem Hinsehen ein Gobelin, und nicht mal ein schlechter, achtzehntes Jahrhundert oder älter, beinahe das Gegenstück zu einem Amiens-Wandteppich, den ich auf einer Versteigerung mit einem Schätzwert von vierzigtausend Pfund gesehen hatte. Und nicht alle Bilderrahmen an der Wand waren leer, in manchen hingen Gemälde, und eins davon sah– selbst in diesem schlechten Licht– aus wie ein Corot.
Ich wollte gerade näher herangehen, um mir das Bild anzusehen, als ein Mann, dessen Alter irgendwo zwischen dreißig und fünfzig liegen konnte, in der Tür erschien: erschöpfter Gesichtsausdruck, hoch aufgeschossen, mit glattem, aschblondem Haar, das aus dem Gesicht nach hinten gekämmt war, in schwarzen Punk-Jeans mit zerschlissenen Knien und einem schmierigen britischen Spezialkommando-Pullover unter einer schlecht sitzenden Anzugjacke.
» Hello « , sagte er zu mir, eine ruhige britische Stimme mit unterschwelliger deutscher Schärfe, » Sie müssen Potter sein. « Er sah Boris an. » Freut mich, dass ihr da seid. Ihr solltet ein bisschen bleiben. Candy und Niall machen Abendessen mit Ulrika. «
Eine Bewegung zu meinen Füßen hinter dem Wandteppich ließ mich hastig einen Schritt zurückweichen: eingewickelte Gestalten auf dem Boden, Schlafsäcke, der Geruch von Obdachlosigkeit.
» Danke, wir können nicht bleiben. « Boris hatte die Katze aufgenommen und kraulte ihr die Ohren. » Aber einen Schluck von dem Wein da. Danke. «
Wortlos reichte Horst ihm sein eigenes Glas und rief etwas auf Deutsch nach nebenan. Dann wandte er sich an mich. » Sie sind Händler, nicht wahr? « Im Lichtschein des Fernsehers leuchtete sein helles Möwenauge mit der stecknadelkopfgroßen Pupille hart und unverwandt.
» Ja « , sagte ich voller Unbehagen. » Äh, danke. « Eine andere Frau– mit einem brünetten Bubikopf, in hohen schwarzen Stiefeln und einem Rock, der gerade kurz genug war, um die schwarze Katze zu bemerken, die auf ihren milchweißen Schenkel tätowiert war– erschien mit einer Flasche und zwei Gläsern für Horst und für mich.
» Danke, Darling « , sagte Horst auf Deutsch. » Möchten die Herren vielleicht eine Nase? «
» Im Moment nicht « , sagte Boris, der sich vorgebeugt hatte, um einen Kuss von der dunkelhaarigen Frau zu stehlen, als sie weggehen wollte. » Hab ich mich bloß gefragt. Was hörst du von Sascha? «
» Sascha… « Horst ließ sich auf den Futon sinken und zündete sich eine Zigarette an. Mit seiner zerrissenen Jeans und den Combat-Stiefeln sah er aus wie die lädierte Version eines drittrangigen Charakterschauspielers aus dem
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