Der Distelfink
diese Genauigkeit, zu Tode reiten– und ein Maler wie van Hoogstraten würde es noch weiter treiben, bis zum letzten Sargnagel. Aber Fabritius… er macht sich einen Witz mit dem Genre… eine meisterliche Erwiderung auf die Idee des Trompe-l’ Œ il… denn andere Partien des Bildes– der Kopf? der Flügel?– sind kein bisschen kreatürlich oder buchstäblich ausgeführt. Er nimmt das Bild absichtsvoll auseinander, um uns zu zeigen, dass er es gemalt hat. Tupfer und Flecken, ausgeformtes Handwerk, besonders die Konturen des Halses, ein solides Stück Malerei, sehr abstrakt. Das macht ihn zu einem Genie– nicht so sehr seiner eigenen als vielmehr unserer Zeit. Da ist eine Doppelung. Man sieht die Spuren, die Farbe als Farbe, und man sieht den lebendigen Vogel. «
» Ja, schön « , brummte Boris im Dunkeln außerhalb des Lichtkreises und ließ sein Feuerzeug zuschnappen. » Ohne Farbe wäre auch nichts zu sehen. «
» Genau. « Horst drehte sich um, und Schatten teilte sein Gesicht. » Es ist ein Witz, dieses Bild. In seinem Kern liegt ein Witz. Und so machen es alle großen Meister. Rembrandt, Velázquez. Der späte Tizian. Sie machen sich einen Witz. Sie amüsieren sich. Sie bauen eine Illusion auf, einen Trick– aber trittst du einen Schritt näher heran, löst sich alles in Pinselstriche auf. Abstrakt, unirdisch. Eine ganz andere, viel tiefergehende Sorte Schönheit. Das Ding und doch nicht das Ding. Ich sollte sagen, dass dieses eine winzige Gemälde Fabritius in den Rang der größten Maler erhebt, die jemals gelebt haben. Der Distelfink. Auf dem Platz eines Kleinods wirkt er ein Wunder. Ich gebe allerdings zu, ich war überrascht « , er sah mich an, » als ich es das erste Mal in der Hand hielt. Es war schwer. «
» Ja. « Wider Willen empfand ich eine obskure Genugtuung, weil er dieses mir so merkwürdig wichtige Detail in seinem eigenen Netz aus Kinderträumen und Assoziationen, einem emotionalen Akkord, bemerkt hatte. » Die Tafel ist dicker, als man annimmt. Sie hat eine gewisse Dichte. «
» Dichte. Genau. Das ist das Wort. Und der Hintergrund– sehr viel weniger gelb als in meiner Kindheit. Das Bild ist gereinigt worden– ich glaube, Anfang der Neunziger. Nach der Konservierung ist es heller. «
» Schwer zu sagen. Ich habe keinen Vergleich. «
» Na ja « , sagte Horst. Der Rauch von Boris’ Zigarette kräuselte sich aus der Dunkelheit, wo er saß, heran und verlieh dem Lichtkreis der Lampe, in dem wir standen, das mitternächtliche Gefühl einer Kabarettbühne. » Ich kann mich irren. Ich war ein Junge von ungefähr zwölf Jahren, als ich es das erste Mal gesehen habe. «
» Ja, ich war auch in etwa so alt. «
» Tja « , sagte Horst resigniert und kratzte sich an einer Braue. Blutergüsse, groß wie Zehn-Cent-Stücke, auf beiden Handrücken. » Es war das einzige Mal, dass mein Vater mich je auf eine Geschäftsreise mitgenommen hat, nach Den Haag. Eiskalte Vorstandszimmer. Kein Blatt rührte sich. An unserem Nachmittag wollte ich nach Drievliet in den Vergnügungspark, aber er ging stattdessen mit mir ins Mauritshuis. Ein großartiges Museum, viele großartige Bilder, aber das einzige, an das ich mich erinnern kann, ist Ihr Fink. Ein Bild, das ein Kind anspricht, oder? Der Distelfink « , sagte er auf Deutsch. » Unter diesem Namen habe ich es kennengelernt. «
» Ja, ja, ja « , sagte Boris gelangweilt im Dunkeln. » Das hört sich an wie Schulfernsehen. «
» Dealen Sie überhaupt mit moderner Kunst? « , fragte ich in der Stille, die darauf folgte.
» Na ja. « Horst fixierte mich aus leeren, kalten Augen. Dealen war nicht ganz das richtige Wort, und meine Wahl schien ihn zu amüsieren. » Manchmal. Hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Kurt Schwitters… Stanton Macdonald-Wright, kennen Sie den? Herrlicher Maler. Hängt sehr davon ab, was mir in die Hände gerät. Aber ganz ehrlich– dealen Sie überhaupt mit Bildern? «
» Sehr selten. Die Kunsthändler sind meistens schneller als ich. «
» Sehr schade. Tragbarkeit ist in meinem Geschäft wichtig. Eine Menge Stücke von mittlerer Klasse könnte ich über den Tisch hinweg verkaufen, wenn ich Papiere hätte, die gut aussehen. «
Knoblauchbrutzeln, klappernde Töpfe in der Küche, ein leiser Hauch von Urin und Weihrauch wie aus einem marokkanischen Souk. Und ununterbrochen das monotone Leiern der Sufi-Klänge, deren Schleier uns im Dunkeln umkreisten, endlose Gesänge an das Göttliche.
» Oder dieser Lépine. Eine
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