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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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den Wagen fallen. Schlug die Tür zu. Holte tief Luft, stemmte sich mit ausgestreckten Armen gegen das Lenkrad.
    » Was macht er da? « Ich schaute zur Seite, geriet in Panik, rechnete halb damit, dass irgendein x-beliebiger Fußgänger zufällig die Blutflecken bemerkte, sich auf den Wagen stürzte, an die Fenster hämmerte, die Tür aufriss.
    » Woher soll ich das wissen? Gibt zu viele Autos in dieser verdammten Stadt. Pass auf « , sagte er schwitzend und bleich im grellen Bremslicht des Wagens vor uns. Hinter uns stauten sich weitere Autos. Wir saßen fest. » Wer weiß, wie lange das dauert. Wir sind nur ein paar Straßen weit von deinem Hotel entfernt. Steig lieber aus und geh zu Fuß. «
    » Ich… « Lag es an den Bremslichtern des Wagens vor uns, dass die Wassertropfen auf der Frontscheibe so rot aussahen?
    Er wedelte ungeduldig mit der Hand. » Potter, geh einfach « , sagte er. » Ich weiß nicht, was los ist mit dem Lieferwagen da vorn. Ich hab Angst, die Verkehrspolizei kommt. Besser für uns beide, wenn wir im Moment nicht zusammen sind. Herengracht– du kannst es nicht verfehlen. Die Grachten hier gehen im Kreis herum, das weißt du, oder? Geh einfach in diese Richtung. « Er streckte den Zeigefinger aus. » Du findest es. «
    » Und was ist mit deinem Arm? «
    » Nichts! Ich würde den Mantel ausziehen, um es dir zu zeigen, aber das macht zu viele Umstände. Jetzt geh. Ich muss mit Cherry reden. « Er zog sein Handy aus der Tasche. » Kann sein, dass ich die Stadt für eine Weile verlassen muss… «
    » Was? «
    » … aber wenn wir uns eine Weile nicht sprechen, mach dir keine Sorgen, ich weiß, wo du bist. Am besten du versuchst nicht, mich anzurufen oder Kontakt aufzunehmen. Ich komme zurück, sobald ich kann. Alles wird gut. Geh– mach dich frisch– Schal um den Hals, ganz hoch– und wir sprechen uns bald! Nicht so blass und krank aussehen! Hast du was bei dir? Brauchst du was? «
    » Was? «
    Er kramte etwas aus seiner Tasche hervor. » Hier, nimm das. « Ein Umschlag aus Glassin mit verschmierten Stempeln. » Nimm nicht zu viel. Ist sehr rein. So viel wie Streichholzkopf, nicht mehr. Und wenn du aufwachst, wird es nicht so schlimm sein. Und jetzt denk dran « , er wählte schon eine Nummer an seinem Telefon, und ich hörte deutlich, wie schwer er atmete, » du musst den Schal hoch um den Hals wickeln und nach Möglichkeit auf der dunklen Straßenseite bleiben. Los! « , schrie er, als ich immer noch dasaß, so laut, dass ich sah, wie ein Mann auf dem Gehweg der Brücke sich umdrehte. » Beeil dich! Cherry « , sagte er und sackte sichtlich erleichtert auf seinem Sitz zusammen. Heiser plapperte er auf Ukrainisch weiter, während ich ausstieg– grell entblößt im schrecklichen Scheinwerferlicht der Autoschlange– und über die Brücke zurück in die Richtung ging, aus der wir gekommen waren. Als ich ihn das letzte Mal sah, telefonierte er und lehnte sich dabei aus dem Fenster hinaus in die übertrieben wallenden Wolken der Auspuffgase, um zu sehen, was mit dem Lieferwagen vor ihm los war.
    XIV
    Die folgende Stunde– oder Stunden– meiner Wanderung über die Grachtenringe auf der Suche nach meinem Hotel war die elendste Zeit meines Lebens, und das will etwas heißen. Es war kälter geworden, mein Haar war nass, meine Kleider feucht, und ich klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Die Straßen waren gerade so dunkel, dass sie alle gleich aussahen, aber nicht dunkel genug, um in Sachen herumzulaufen, die mit dem Blut eines Mannes bespritzt waren, den ich kurz vorher umgebracht hatte. Schnell ging ich durch schwarze Straßen, meine Absätze klangen seltsam zuversichtlich auf dem Pflaster, und ich fühlte mich unbehaglich und auffällig wie in einem Albtraum, in dem man nackt durch die Straßen läuft. Ich wich den Straßenlaternen aus und versuchte mir schwindendem Erfolg, mir einzureden, mein umgekrempelter Mantel sehe völlig normal aus und habe nichts Ungewöhnliches an sich. Ich sah Fußgänger, aber nicht viele. Um nicht wiedererkannt zu werden, hatte ich die Brille abgenommen, denn ich wusste aus Erfahrung, dass diese Brille mein markantestes Merkmal war– was die Leute als Erstes bemerkten und woran sie sich erinnerten–, und auch wenn es bei meiner Suche nach dem richtigen Weg nicht gerade hilfreich war, gab es mir doch ein irrationales Gefühl von Sicherheit und Tarnung. Unlesbare Straßenschilder und die dunstigen Lichtkränze der Straßenlaternen, die mir isoliert aus der

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