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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Dunkelheit entgegenschwebten, verschwommene Autoscheinwerfer und Festtagslametta, das Gefühl, von Verfolgern durch ein unscharfes Objektiv beobachtet zu werden.
    Was passiert war: Ich war zwei Straßen weit an meinem Hotel vorbeigelaufen. Überdies: Ich war nicht an europäische Hotels gewöhnt, bei denen man nach einer bestimmte Uhrzeit klingeln musste, um hineingelassen zu werden, und als ich endlich niesend und durchfroren bis auf die Knochen vor der Glastür ankam und feststellte, dass sie verschlossen war, stand ich eine unbestimmte Zeit lang da und rüttelte wie ein Zombie an der Türklinke, auf, ab, auf, ab, rhythmisch, regelmäßig, stupide wie ein Metronom, zu sehr betäubt von der Kälte, um noch zu begreifen, warum ich nicht hineinkam. Verzweifelt starrte ich durch das Glas in die Lobby auf die glatte, schwarze Theke der Rezeption: leer.
    Dann– von hinten, schnell und mit erschrocken hochgezogenen Brauen– ein adretter dunkelhaariger Mann in einem dunklen Anzug. Ich sah ein furchtbares Aufblitzen, als er mich anschaute, und mir wurde klar, wie ich aussehen musste. Dann schaute er weg und fummelte den Schlüssel ins Schloss.
    » Verzeihung, Sir, aber wir schließen nach elf Uhr die Tür ab. « Noch immer sah er mich nicht an. » Zur Sicherheit unserer Gäste. «
    » Ich bin in den Regen gekommen. «
    » Selbstverständlich, Sir. « Ich sah, dass er auf die Manschette meines Hemdes starrte, die mit einem bräunlichen Blutstropfen bespritzt war, so groß wie ein Vierteldollar. » Wir haben Schirme an der Rezeption, falls Sie einen benötigen. «
    » Danke. « Dann fügte ich blödsinnig hinzu: » Hab mich mit Schokoladensauce bekleckert. «
    » Tut mir leid, das zu hören, Sir. Wir können gern versuchen, es in der Wäscherei herauszubekommen, wenn Sie möchten. «
    » Das wäre großartig. « Konnte er es nicht an mir riechen, das Blut? In der geheizten Lobby stank ich doch danach, nach Rost und Salz. » Ist auch noch mein Lieblingshemd. Profiteroles. « Halt die Klappe, halt die Klappe. » Aber köstlich. «
    » Freut mich zu hören, Sir. Wir reservieren Ihnen gern für morgen einen Tisch in einem Restaurant, wenn Sie möchten. «
    » Danke. « Blut in meinem Mund, überall der Geruch und der Geschmack, und ich konnte nur hoffen, dass er es nicht ganz so stark riechen konnte wie ich. » Das wäre großartig. «
    » Sir? « , rief er, als ich zum Aufzug ging.
    » Ja? «
    » Ich glaube, Sie brauchen Ihren Schlüssel, oder? « Er trat hinter die Theke und nahm einen Schlüssel aus einem Fach. » Siebenundzwanzig, nicht wahr? «
    » Ja « , sagte ich, dankbar dafür, dass er mir meine Zimmernummer genannt hatte, und zugleich erschrocken, weil er sie so einfach auswendig kannte.
    » Gute Nacht, Sir. Und noch einen schönen Aufenthalt. «
    Zwei verschiedene Aufzüge. Endlose Korridore mit roten Teppichböden. Im Zimmer angekommen, schaltete ich sämtliche Lampen an– die Schreibtischlampe, die Nachttischlampe, den hellen Kronleuchter. Ich streifte den Mantel ab, ließ ihn zu Boden fallen und steuerte auf das Bad zu, knöpfte mir auf dem Weg das Hemd auf, taumelnd wie Frankensteins Ungeheuer, von Mistgabeln gehetzt. Ich knüllte den klebrig verschmierten Stoff zusammen, warf ihn in die Badewanne und drehte das Wasser auf, so hart und heiß, wie es ging, rosarote Rinnsale flossen um meine Füße, und ich schrubbte mich mit dem lilienduftenden Duschgel ab, bis ich roch wie ein Friedhofskranz und meine Haut wie Feuer brannte.
    Das Hemd war hinüber: Braune Flecken zogen sich wellig und unregelmäßig um den Kragen, als das Wasser längst sauber herauslief. Ich ließ es in der Wanne einweichen und widmete mich dem Schal und dann dem Jackett– es war blutverschmiert, aber so dunkel, dass man es nicht sah–, und schließlich, mit möglichst spitzen Fingern (warum war ich im Kamelhaarmantel zur Party gegangen? warum nicht in dem marineblauen?), krempelte ich den Mantel um. Das eine Revers sah nicht so schlimm aus, das andere aber dafür sehr. Der weindunkle Klecks war von einer blökenden Lebendigkeit, die mich noch einmal in die Energie des Schusses zurückversetzte: zurück zu dem Rückstoß, der Explosion, der Flugbahn der Tröpfchen. Ich stopfte den Mantel unter den Wasserhahn des Spülbeckens, goss Shampoo darüber und schrubbte und schrubbte mit einer Schuhbürste aus dem Schrank, und als das Shampoo aufgebraucht war und das Duschgel ebenfalls, rieb ich den Fleck mit einem Stück Seife ein und schrubbte

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