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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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wir vertrauen einander. Und weiß– o Gott, da ist ein Polizist, ich muss langsamer fahren. «
    Ich starrte auf meine Schuhe. Schuhe Schuhe Schuhe. Ich hatte nur einen Gedanken: Als ich sie ein paar Stunden zuvor anzog, hatte ich noch niemanden umgebracht.
    » Weil– Potter, Potter, überleg dir. Hör mir einen Moment zu, bitte. Wenn ich ein Fremder wäre– jemand, den du nicht kennst, dem du nicht vertraust? Wenn du jetzt mit einem Fremden aus der Garage gekommen wärst? Dann wäre dein Leben für alle Zeit an diesen Fremden gekettet. Du würdest sehr vorsichtig mit dieser Person umgehen müssen, so lange du lebst. «
    Kalte Hände, kalte Füße. Snackbar, Supermarkt. Pyramiden aus Obst und Süßigkeiten im Scheinwerferlicht, Verkoop Gestart!
    » Dein Leben, deine Freiheit– abhängig von der Loyalität eines Fremden? Was dann? Jawohl. Sorgen. Absolut. Du sitzt tief in der Patsche. Aber– niemand weiß von dieser Sache außer uns. Nicht mal Juri! «
    Ich konnte nichts sagen, ich schüttelte nur heftig den Kopf und rang nach Luft.
    » Wer denn noch? China Boy? « Boris schnaubte verächtlich. » Wem soll er was erzählen? Er ist minderjährig und illegal hier. Er spricht keine richtige Sprache. «
    » Boris « , ich lehnte mich leicht nach vorn und hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen, » er hat das Bild. «
    » Ah. « Boris zog eine schmerzliche Grimasse. » Das ist weg, fürchte ich. «
    » Was? «
    » Für immer, vielleicht. Es macht mich krank, krank im Herzen. Denn ich sag’s nicht gern, aber Wu? Gu? wie heißt er? Nach dem, was er gesehen hat…? Er wird nur an sich selbst denken. Verrückt vor Angst! Tote Menschen! Abschiebung! Damit will er nichts zu tun haben. Vergiss das Bild. Er hat keine Ahnung, was es wirklich wert ist. Und wenn er irgendwelchen Ärger mit den Cops bekommt? Bevor er auch nur einen Tag im Knast verbringt, wird er es loswerden wollen. Also « , er zuckte benommen die Achseln, » wollen wir hoffen, dass er entkommt, der kleine Scheißer. Sonst besteht sehr große Chance, dass ptíza am Ende in die Gracht geworfen wird. Verbrannt. «
    Laternenlicht blinkte auf den Motorhauben geparkter Autos. Ich fühlte mich körperlos, abgeschnitten von mir selbst. Wie es sich anfühlen würde, wieder in meinen Körper zurückzukehren, konnte ich mir nicht vorstellen. Wir waren wieder in der Altstadt. Holpriges Kopfsteinpflaster, nächtliches Monochrom wie auf einem Bild von Aert van der Neer, siebzehntes Jahrhundert zu beiden Seiten, tanzende Silbermünzen auf dem schwarzen Wasser.
    » Ach, hier ist auch gesperrt « , stöhnte Boris und bremste wieder hart, bevor er den Wagen zurücksetzte. » Wir müssen anderen Weg finden. «
    » Weißt du denn, wo wir sind? «
    » Ja, natürlich « , sagte Boris mit beängstigender, unbegründeter Fröhlichkeit. » Das ist dein Kanal da drüben. Die Herengracht. «
    » Welcher Kanal? «
    » In Amsterdam kann man sich leicht orientieren « , sagte Boris, als hätte ich nicht gesprochen. » In der Altstadt brauchst du nur den Grachten zu folgen, bis du– mein Gott, hier haben sie auch gesperrt. «
    Farbliche Abstufungen. Gespenstisch belebtes Dunkel. Der kleine, geisterhafte Mond über den Glockengiebeln war so winzig, dass er aussah wie der Mond eines anderen Planeten, dunstig und okkult, spukhafte Wolken, getönt mit einem zarten Hauch von Blau und Braun.
    » Keine Sorge, passiert dauernd. Immer bauen sie hier irgendwas. Riesendurcheinander von Baustellen. Das alles– ich glaube, ist für neue U-Bahn oder so was. Alle ärgern sich darüber. Viele reden von Betrug, bla bla. Das Gleiche wie in jeder Stadt, oder? « Er sprach so undeutlich, dass es klang, als sei er betrunken. » Straßenbauarbeiten überall und Politiker werden reich. Darum hier fahren alle Fahrrad, geht schneller, nur– bedaure, ich fahre eine Woche vor Weihnachten nirgendwo mit dem Fahrrad. O nein « , schmale Brücke, anhalten hinter einer Reihe von Autos, » geht’s da weiter? «
    » Ich… « Wir standen auf einer Brücke mit Fußgängern. Rosarote Tropfen, sichtbar auf den regennassen Scheiben. Leute, die hin- und hergingen, kaum drei Handbreit entfernt.
    » Steig aus und sieh nach. Ach, lass « , sagte er ungeduldig, bevor ich mich aufraffen konnte. Er schob den Schalthebel in Parkstellung und stieg selbst aus. Ich sah seinen Rücken, angestrahlt von den Scheinwerfern, formal und wie inszeniert in Wolken von Auspuffdunst.
    » Lieferwagen « , sagte er und ließ sich wieder in

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