Der Distelfink
(über meinem Bett und unter der Dachschräge) mit säuberlich versenkten Messingbeschlägen und zu nautischem Hochglanz emailliert. Schiffszimmerei, ein schwankendes Deck und, draußen plätschernd, schwarzes Wasser der Gracht. Delirium: ankerlos treibend. Draußen war dichter Nebel, kein Windhauch, Straßenlaternen brannten diffus, ausgezehrt, aschgrau und still, weich verschwommen durch den Dunst.
Es juckte, juckte. Brennende Haut. Übelkeit und rasende Kopfschmerzen. Je prachtvoller die Droge, desto tiefer der– geistige und körperliche– Schmerz, wenn die Wirkung verging. Ich war wieder bei dem Fetzen, der aus Martins Stirn flog, nur jetzt auf einer intimeren Ebene, fast ein Teil davon mit jedem Pulsschlag, jedem Spritzer, und– schlimmer noch, ein Gefrierpunkt, der sehr viel tiefer lag– das Bild: weg. Blutbeschmierter Mantel, die Füße des wegrennenden Jungen. Blackout. Desaster. Für Menschen– gefangen in der Biologie– gab es keine Gnade: Wir lebten eine Weile, machten ein bisschen herum und starben dann, verrotteten in der Erde wie Abfall. Die Zeit zerstörte uns alle nur zu bald. Aber etwas Unsterbliches zu zerstören oder zu verlieren– Bande zu zerreißen, die stärker waren als das Zeitliche–, das war eine metaphysische Entkopplung ganz eigener Art, eine verblüffende neue Variante der Verzweiflung.
Mein Dad am Bakkarat-Tisch in der klimatisierten Mitternacht. Es steckt immer noch mehr hinter den Dingen, eine verborgene Ebene. Das Glück in seinen dunkleren Farben und Manifestationen. Er befragte die Sterne, wartete mit den großen Wetten, bis Merkur rückläufig war, griff nach einem Wissen jenseits des Bekannten. Schwarz war seine Glücksfarbe, neun seine Glückszahl. Noch eine Karte, mein Junge. Es gibt ein Muster, und wir sind ein Teil davon. Aber wenn man an der Vorstellung von diesem Muster allzu sehr kratzte (diese Mühe hatte er sich anscheinend immer gespart), stieß man auf eine Leere, die so dunkel war, dass sie kategorisch alles zerstörte, was man je als Licht gesehen oder sich vorgestellt hatte.
KAPITEL 12
Der Rendezvous Point
I
Die Tage bis Weihnachten vergingen im Nebel, und weil ich krank war und praktisch in Einzelhaft lebte, verlor ich bald jedes Zeitgefühl. Ich blieb in meinem Zimmer, das » Bitte nicht stören « -Schild an der Tür, und der Fernseher– statt ein wenn auch falsches Summen der Normalität zu produzieren– verschärfte nur die vielfältigen Formen von Verwirrung und Desorientierung: keine Logik, keine Struktur, was als Nächstes dran war, wusste man nicht, Sesamstraße auf Holländisch, Holländer im Gespräch an einem Tisch, noch einmal Holländer im Gespräch an einem Tisch, und auch wenn es Sky News, CNN und BBC gab, kamen die Lokalnachrichten doch nirgends auf Englisch (jedenfalls nichts, was wichtig gewesen wäre, nichts über mich oder das Parkhaus), allerdings erschreckte ich mich irgendwann richtig, als ich beim Zappen durch die Kanäle auf eine alte amerikanische Krimiserie stieß und verblüfft innehielt, als ich meinen fünfundzwanzigjährigen Vater sah: eine seiner vielen stummen Rollen, ein Wasserträger, der auf einer Pressekonferenz hinter einem politischen Kandidaten herumstand und zu dessen Wahlkampfversprechungen nicken musste, und einen gespenstischen Moment lang blickte er in die Kamera und geradewegs über den Ozean hinweg in die Zukunft und zu mir. Die mehrfache Ironie darin war so vielschichtig und unheimlich, dass ich entsetzt die Augen aufriss. Abgesehen von seinem Haarschnitt und der kräftigeren Figur (aufgepumpt vom Gewichtheben, weil er damals viel ins Fitness-Studio gegangen war) hätte er mein Zwilling sein können. Aber der größte Schock war, wie ehrlich er aussah– mein damals (ca. 1985) bereits kriminell verlogener und in den Alkoholismus abgleitender Vater. Nichts von seinem Charakter oder seiner Zukunft war ihm am Gesicht anzusehen. Entschlossen sah er aus, aufmerksam, der Inbegriff von Sicherheit und Verheißung.
Danach schaltete ich den Fernseher ab. Mein Hauptkontakt mit der Realität bestand mehr und mehr aus dem Zimmerservice, den ich nur in den finstersten Stunden vor dem Morgengrauen rief, wenn die Lieferdienstboten noch langsam und verschlafen waren. » Nein, ich möchte holländische Zeitungen, bitte « , sagte ich (auf Englisch) zu dem holländisch sprechenden Pagen, der mir die International Herald Tribune mitbrachte, als er mir meine holländischen Brötchen mit Kaffee, Eier und Speck und ein
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