Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
Vom Netzwerk:
Frau, die aus einem Zimmer kam. »Ich muß Mr. Herriot das Kalb zeigen.«
    Draußen sah sie mich an und lachte. »Leider ist es ziemlich weit zu gehen. Das Kalb ist in einem der oberen Ställe. Dort, sehen Sie?« Ihre Hand deutete auf einen niedrigen Steinbau hoch oben am Hang. Ich kannte diese Stallscheunen; sie lagen über das ganze Hochland verstreut, und der Weg zu ihnen kostete mich so manchen Schweißtropfen. Man benutzte sie teils als Heuschober, teils als Ställe für die Tiere auf den Bergwiesen.
    Ich sah das Mädchen ein paar Sekunden lang an. »Ach, das macht nichts. Mich stört’s kein bißchen.«
    Wir überquerten den Fluß, und als ich hinter dem Mädchen über die schmale Brücke ging, kam mir der Gedanke, daß es vielleicht ein bißchen revolutionär sei, wenn Frauen in Hosen umherspazierten, daß aber viel für diese Mode spreche. Der Weg führte durch den Tannenwald hinauf, und hier wurde das Sonnenlicht gebrochen, so daß es leuchtendhelle Inseln zwischen den dunklen Stämmen bildete. Das Rauschen des Flusses war nur noch ganz schwach zu hören, und wir gingen auf einem dicken, weichen Teppich von Tannennadeln. Es war kühl im Wald und sehr still, nur ab und zu ertönte der Ruf eines Vogels.
    Nach zehn Minuten mühsamen Aufstiegs traten wir wieder in den heißen Sonnenschein hinaus, und der Pfad wand sich jetzt noch steiler um eine Reihe großer Felsblöcke. Ich fing an zu keuchen, aber das Mädchen behielt mühelos den raschen Schritt bei. Ich war froh, als wir ebenen Boden erreichten und der Stall wieder in Sicht kam.
    Ich öffnete die Halbtür. In dem dunklen Verschlag konnte ich meinen Patienten kaum erkennen. Die Luft war schwer vom Duft des Heus, das fast bis unters Dach gestapelt war. Das Kalb wirkte sehr klein und kläglich mit dem baumelnden Vorderbein, das es nutzlos über den mit Stroh bestreuten Boden schleifte.
    »Würden Sie seinen Kopf festhalten, während ich es untersuche?« bat ich.
    Helen Alderson faßte das Kalb fachmännisch an: Sie schob die eine Hand unter sein Kinn und packte es mit der anderen am Ohr. Während ich das Bein abtastete, stand das kleine Tier zitternd da, ein Bild des Jammers.
    »Ja, Ihre Diagnose stimmt. Fraktur von Speiche und Elle. Aber die Verschiebung ist sehr gering, also dürfte ein Gipsverband genügen.« Ich öffnete meine Tasche und nahm ein paar Gipsbandagen heraus. Dann füllte ich an einer nahen Quelle einen Eimer mit Wasser. Ich feuchtete eine der Bandagen gut an und wickelte sie um das Bein; ebenso machte ich es mit der zweiten und dritten Bandage, so daß eine vom Ellenbogen bis zum Fuß reichende, schnell hart werdende weiße Hülle entstand.
    »Wir wollen ein paar Minuten warten, bis der Gips hart ist, dann können wir es laufenlassen.« Ich beklopfte den Verband immer wieder, und als er hart wie Stein war, sagte ich: »Gut, jetzt wollen wir es riskieren.«
    Das Mädchen ließ den Kopf los, und das Kälbchen trabte davon. »Schauen Sie«, rief Helen, »es kann das Bein schon belasten! Und sieht es nicht viel glücklicher aus?« Ich lächelte und hatte das Gefühl, wirklich etwas geleistet zu haben. Da die gebrochenen Enden des Knochens sich nicht verschieben konnten, hatte das Kalb keine Schmerzen mehr, und die Angst, die ein verletztes Tier immer quält, war verschwunden.
    »Ja«, sagte ich, »es hat sich schnell erholt.« Meine Worte gingen unter in einem fürchterlichen Gebrüll, und das Fleckchen blauer Himmel über der Halbtür wurde plötzlich von einem großen, struppigen Kopf verdunkelt. Zwei feucht glänzende große Augen starrten ängstlich auf das Kalb, das mit einem hohen Brüllton antwortete. Bald war ein ohrenbetäubendes Duett im Gange.
    »Das ist die Mutter«, erklärte das Mädchen mit erhobener Stimme. »Armes altes Ding, sie hat den ganzen Vormittag draußen gestanden und sich um ihr Kalb gesorgt. Sie ist nicht gern von ihm getrennt.«
    Ich richtete mich auf und öffnete den Türriegel. »Sie kann jetzt hereinkommen.«
    Die große Kuh stieß mich fast um, als sie an mir vorbeistürmte. Sie inspizierte sorgfältig und schnüffelnd ihr Kind, schob es mit dem Maul bald hierhin, bald dorthin und muhte leise.
    Das kleine Tier ließ all das Getue beglückt über sich ergehen, und als die Mutter sich endlich zufriedengab, hinkte es zum Euter und begann herzhaft zu saugen.
    »Es geht doch nichts über einen guten Appetit«, sagte ich, und wir lachten beide.
    Ich warf die leeren Blechdosen in meine Tasche und schloß sie. »Der Gips

Weitere Kostenlose Bücher