Der Domino-Killer
wie er nun in die andere Richtung rannte und die Kammer entdeckte, die Tür öffnete und die im Dunkeln liegenden engen Wände hinaufspähte. Spürte seinen Blick. Roch, dass er sich mir näherte, bevor ich seine Schritte auf der Leiter unter mir hörte. Er stieg höher. Ganz dicht unter mir. Wahrscheinlich mit dem Messer zwischen den Zähnen.
Die Luke war unglaublich schwer – ich schaffte es nicht, sie aufzudrücken. Dann aber hob sie sich doch ein wenig, und ich drückte und drückte und drückte … bis ich das ungeheure Gewicht gestemmt hatte und sie sich plötzlich leicht wie eine Feder bewegen ließ. Dahinter kamen der Nachthimmel und die Sterne zum Vorschein – der Fluchtweg war frei.
Während ich aufs Dach kletterte, spürte ich, dass JPPs Hand meinen Fuß berührte. Ich trat sie weg und zog mich hinauf. Draußen sprang ich auf die Beine – und rannte von unserem Hausdach zum nächsten, an das sich wiederum das nächste und das übernächste anschlossen. Irgendwo würde ich eine Möglichkeit finden zu entkommen. Irgendwie. Irgendeinen Ausweg musste ich einfach finden. Das hatte man uns auf der Polizeischule beigebracht: nicht aufgeben; die Augen offen halten, die Chance erkennen und dann weiter.
Ich hörte die Schüsse der Scharfschützen, bevor mir auffiel, dass überall um mich herum Männer auf den Dächern kauerten.
Zwei der Polizisten feuerten ihr Gewehr ab, und dann rief eine Stimme: «Nicht schießen! Das ist die Frau.»
Zwei Schüsse.
Ich fühlte, wie sich eine der Kugeln durch meinen Bauch brannte. Dann glaubte ich zu schweben und wurde schwerelos.
Ein weißes Feld.
Die Auslöschung aller Gedanken.
Freiheit.
Erlösung.
KAPITEL 4
Jackson kam zu mir und spielte mir ein Lied auf der Gitarre vor. Die Melodie hob und senkte sich in meiner vernebelten Wahrnehmung, ich fühlte mich leer, verwirrt und begriff nicht, was eigentlich genau geschah.
Und dann stieg mir ein scharfer antiseptischer Geruch in die Nase, verdrängte Jackson und sein wunderschönes Lied.
Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter, als stiege sie aus einer lang verblassten Erinnerung auf: «Sie hat einen blitzgescheiten Kopf auf den Schultern, und außerdem ist sie groß, schlank und schön. Sie wird mit allem Erfolg haben im Leben, egal, wofür sie sich entscheidet.» Sie sprach mit jemandem am Telefon. Mit wem? Ich war zehn, und die Mutter eines Freundes hatte mich gerade vom Sport nach Hause gefahren. Ich betrat die Küche und bekam mit, wie meine Mutter über mich sprach. An ihrem betont hoffnungsfrohen Ton erkannte ich, dass sie mal wieder über die Zukunft ihrer Kinder redete. Sie saß da am Küchentisch, lachte jetzt auf, den Hörer ans Ohr gepresst. Die meterlange Spiralschnur verband sie mit dem roten Telefon an der Wand. Ich fühlte mich verraten. Aber auch geschmeichelt. Wusste nicht genau, was ich von der Meinung meiner Mutter halten sollte oder weshalb sie derart sicher war, mich so gut zu kennen, wenn ich mich doch selbst kaum kannte. Ich war gerade dreimal hintereinander vom Schwebebalken gefallen, weil meine Beine ganz plötzlich lang und schlaksig geworden waren, und an jenem Tag wurde mir klar, dass mir das gewisse Etwas fehlte. Jedenfalls das Etwas, das ich gebraucht hätte, um es in die Turnmannschaft zu schaffen. Das hatte ich mir gewünscht, und nun musste ich feststellen, dass daraus nichts werden würde.
«Karin.»
Redete sie mit mir? Sie schaute die Wand an und drehte die Telefonschnur zwischen den Fingern hin und her. Ihre Nägel waren pink lackiert; sie war gerade erst zur Maniküre gewesen. Ihr war nicht einmal bewusst, dass ich zu Hause war oder in der Tür stand und lauschte.
«Kannst du mich hören?»
Der chemische Geruch drang mir durch die Nase in den Kopf. Mein Gehirn nahm ihn auf wie ein Schwamm.
Und dann öffneten sich meine Lider, der Traum entschwand.
«Karin?»
Wieso hatte meine Mutter Macs Gesicht? Macs Stimme?
Ich blinzelte.
Er lächelte. Lächelte nur und schaute mich an. Die weiche Haut seines perfekt rasierten Gesichts hob sich an den Mundwinkeln, als er lächelte. Seine dunkelblauen Augen lächelten mit. Sein Haar war nicht ganz so dunkel, außerdem grauer und kürzer als bei unserer letzten Begegnung. Wann war das gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. Wochen oder Monate. Es verging mittlerweile immer mehr Zeit zwischen unseren Treffen. Wir hatten uns täglich gesehen, bis zu jener Nacht, in der ich die Tabletten geschluckt hatte, mein letzter Tag bei der
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