Der Domino-Killer
Lehne hing ein blaugrün karierter Pullover, den ich als den meiner Mutter wiedererkannte. Auf dem langen Fensterbrett befand sich ein Taschenbuch mit einem Lesezeichen in der Mitte. Zwei Blumensträuße standen in Glasvasen, um den Hals der einen war eine gelbe Schleife gebunden. Sie standen auf einem Schreibtisch, über dem ein Fernseher angebracht war. Offenbar befand ich mich in einem Einzelzimmer, ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte, da war ich mir ziemlich sicher. Jemand musste die Extrakosten übernommen habe. Meine Eltern vermutlich. Gegen meinen Willen fing ich an zu weinen.
«Es tut mir leid. Aber du kannst unmöglich verstehen, was ich durchmache, Mac. Das kann niemand. Ich dachte nur …»
Er drückte meine Hand. «Schhh. Ich versteh’s ja.»
Ich drehte den Kopf wieder, um ihn anzusehen. «Nein, tust du nicht.» Kein Mensch konnte nachempfinden, was ich fühlte oder in den letzten Monaten ertragen hatte – zu ertragen versucht hatte und daran gescheitert war.
Macs Stirn straffte sich, seine Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. Ich kannte den Blick: Begreifen, Frustration, Resignation. Wir wussten beide, dass es absolut nichts gab, was er sagen konnte, um mir zu helfen.
«Wie hat er es geschafft zu fliehen?», fragte ich.
«Wahrscheinlich genauso, wie er reingekommen ist. Durch den Keller.»
«Sie haben ihn mit dem zweiten Schuss nicht erwischt?»
«Vielleicht schon. Die Schützen haben ihn einmal kurz aus der Luke springen sehen, aber es war dunkel, und dann war er weg. Tatsächlich waren sie der Meinung, er wäre getroffen, aber es gab nirgendwo Blutspuren. Nicht von ihm jedenfalls.»
Also war meine Wohnung wirklich zum Tatort geworden, wenn auch nicht zum Tatort eines Mordes, sondern eines Mordversuchs. Eines Selbstmordversuchs. Es war nur knapp danebengegangen, eine verpasste Chance, in jeder Hinsicht. Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf. Das Seil, das aus der großen Tasche auf den Boden fiel. Der Tisch, die Karten, die Dominosteine.
«Allerdings», sagte Mac und tippte mit dem pinkfarbenen Umschlag gegen sein Knie, «konnte niemand die zweite Kugel finden, deshalb sind wir nicht sicher. Dass er entkommen ist, wissen wir. Die große Frage bleibt: in welchem Zustand?»
«Willst du damit sagen, er könnte nicht mehr leben?»
«Tot, verletzt, bei bester Gesundheit. Such dir was aus.»
Das war genauso, wie vor drei geschlossenen Türen zu stehen, von denen man nicht wusste, hinter welcher sich der Preis verbarg und hinter welcher der Abgrund. Und dann sollte man blind wählen.
«Welchen Tag haben wir heute?»
«Mittwoch. Du warst volle zwei Tage bewusstlos.»
«Habt ihr die Dominos enträtselt?»
Macs Augen verengten sich. «Dominos?»
«Die lagen zusammen mit den Karten auf dem Tisch. Vier Dominosteine.»
«Dann muss er sie auf seinem Weg hinaus mitgenommen haben.»
Ich begriff das nicht. Wieso sollte JPP seine Dominos wieder an sich nehmen, seinen kostbaren Hinweis zurückziehen? Vielleicht war er wirklich tot. Vielleicht war er schlimm verwundet. Vielleicht war er sich nicht sicher, ob er seinen kranken Plan zu Ende bringen konnte. Also hatte er die Spielsteine wieder eingesammelt, um Zeit zu gewinnen und sich in Ruhe seinen nächsten Schritt zu überlegen. Vielleicht auch nicht. Inzwischen … waren zwei Tage vergangen. Zwei Tage! Mein Herz begann zu rasen, wenn ich daran dachte, dass er möglicherweise in der Nähe meiner Familie lauerte. Oder gar nicht nur lauerte …
«Drei, sechs, vier, eins, fünf, zwei, drei.»
«Ganz sicher, Karin?»
«Ja.» Ich konnte die vier Dominos noch immer vor meinem inneren Auge sehen. Sie hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt, als mein Adrenalinspiegel den Höchststand erreicht hatte, und ich begriff, welche Bedrohung sich hinter ihnen verbarg. In dem Augenblick hatte ich beschlossen zu leben. «Mac, wenn jemandem aus meiner Familie etwas passiert wäre, würdest du es mir doch sagen, oder?»
Er sah mich an und nickte, aber es wirkte nicht sonderlich überzeugend. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, wusste nicht, ob er mir etwas verheimlichte, von dem ich seiner Meinung nach nichts erfahren sollte.
«Mac?»
«Ich weiß nicht, was ich in so einem Fall tun würde, Karin. Aber deine Mutter ist die ganze Zeit hier gewesen, und mir ist während der letzten beiden Tage sonst nichts zu Ohren gekommen.»
Jetzt war ich beruhigt. Mac hätte mir nicht offen ins Gesicht gelogen.
Er stand auf, holte das Handy
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