Der Domino-Killer
jeder Schritt war zu hören.
Ein Schritt nach dem anderen. Langsam. Auf ihn zu.
Während er dort hockte. So tat, als hätte er keine Angst. Ein Abbild der Arroganz. Die hellen Augen einmal auf mich gerichtet und dann wieder auf den Boden.
Ein Schritt nach dem anderen.
Langsam.
Auf ihn zu.
Während alle wortlos zusahen. Mein Atem ging schwer. Schweiß tropfte mir vom Gesicht. Die Fäuste hingen mir wie Steine vom Körper.
Es lag jetzt alles bei mir. Ich konnte tun, was immer ich wollte.
Ich stand über ihm. Meine Knie nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Ich starrte ihm auf den Kopf mit dem schütter werdenden Haar. Dachte für den Bruchteil einer Sekunde daran, dass irgendeine Frau ihn in diese Welt gebracht hatte. War angewidert von seiner bloßen Existenz. Davon, wie der Zufall gute und gleichzeitig abgrundtief böse Menschen hervorbrachte.
«Alle raus», befahl Billy den Polizisten.
Ein bisschen gemurmelter Protest von einigen, aber sie verschwanden trotzdem aus der Toilette, und Billy folgte ihnen. Man ließ mich und Mac mit diesem Mann alleine, diesem Ungeheuer, nach dem wir so lange verzweifelt gesucht hatten – der Preis dafür war entsetzlich hoch gewesen.
Wenn ich allein mit ihm gewesen wäre, ganz allein … in meiner Phantasie ging ich die verschiedenen Szenarien durch. Sah, wie mein Fuß sein lächerliches Gesicht zertrümmerte. Sah, wie meine Hände ihm den Hals zudrückten bis zum letzten Atemzug. Sah, wie alles Leben unter meinem Zorn aus ihm wich. Hätte ich eine Waffe gehabt, ich …
Ich drehte mich zu Mac, und mir fiel ein, dass er ja als verdeckter Ermittler hier war.
«Wo hast du sie?»
«Nein, Karin.»
Ich ließ beide Hände über Macs schuppiges Kostüm gleiten, die gleiche grüne Gummihaut, die auch Martin Price trug. Suchte nach Macs Waffe. Wenn er sie nicht an der Hüfte trug, dann am rechten Knöchel, das wusste ich. Ich fasste in seinen Stiefel, packte den Griff und zog die Waffe heraus.
Jetzt spielten wir nach meinen Regeln.
«Geh raus», sagte ich zu Mac. Ich wollte allein sein mit dem Mann, der meine Tochter umgebracht hatte. Meinen Mann ermordet. Mein Leben zerstört. Die Menschen, die ich liebte, bedroht hatte. Geschworen hatte, so lange weiterzumachen, bis jeder Domino in seinem kranken Spiel umgefallen war und keiner mehr stand. Bis meine gesamte Familie ausgelöscht war.
Allein mit diesem Mann . Ohne jeden Zeugen.
«Nein.»
«Wie du willst.»
Ich richtete Macs Waffe auf Martin Price’ Kopf. Der Feigling schaffte es nicht einmal, mich anzusehen. Konnte dem eigenen Tod nicht ins Auge blicken, obwohl er so viele andere dazu gezwungen hatte – langsam und ohne jedes Mitgefühl. Ich würde immerhin gnädig sein. Ich war eine gut ausgebildete Schützin und er direkt vor mir; ich musste ihm nur in den Kopf schießen.
Ich entsicherte die Waffe.
Meine Hand zitterte.
Ich zielte.
«Karin, nein .» Mac versuchte, meinen Arm herunterzudrücken.
«O doch.»
«Das ist Mord.»
«Nein, Gerechtigkeit.»
«So macht man das nicht. Er wird lebenslänglich weggesperrt, und das ist schlimmer als der Tod. Denk bitte einmal nach. Hör nicht auf dein Gefühl, sondern auf deinen Verstand .»
War das wirklich der richtige Moment für moralische Abwägungen? In der Sekunde, in der ich die schwierigste und folgenschwerste Entscheidung meines Lebens treffen musste?
Nein .
Aber …
Martin hob den Kopf und schaute mich an.
Und dann sagte er: «Bitte. Tu’s nicht.»
In meinem Kopf spulte ich die Szene vor, stellte mir vor, wie ich ihn umbrachte . Und als ich sah , wie die Kugel in Martin Price’ Gehirn drang und es zerfetzte, wie sie ihm einen so plötzlichen und gewaltigen Schock versetzte, dass er die Brutalität seines eigenen Todes weder körperlich noch seelisch auskosten konnte – als ich ihm in die Augen blickte und ein menschliches Wesen erkannte …
Rache – was war denn daran so falsch? Wieso zögerte ich überhaupt, jetzt, wo die Gelegenheit sich bot?
Wieso sollte ich in einem solchen Fall auch nur einen Gedanken daran verschwenden, was recht oder unrecht sein mochte?
Wer würde ein solches Monster nicht zerstören wollen?
Wem könnte man es nicht verzeihen, dass er diesen Mann erschoss?
Das alles war mir bewusst. Selbst in diesem Moment. Vollkommen bewusst.
Und dennoch brachte ich es nicht fertig.
Ich konnte es nicht.
Wie ich jetzt herausfinden musste, war ich zwar dazu fähig, mich selbst umbringen, nicht aber Martin Price.
Warum bloß?
Mein
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