Der Dominoeffekt
kommentierte die Schwester, als ein weiterer Schwall unverständliches Gebrabbel auf sie losgelassen wurde.
»Ein Russe«, entschied die Ärztin. »Hast du das gerade gehört? Jem noga. Heißt ›ein bisschen‹.«
»Wow, seit wann kannst du so gut auswärts?«
»Kennst du den Film Jagd auf Roter Oktober? Die Szene, als dieser Ryan das erste Mal auf Kapitän Ramius trifft? In dem U-Boot?«
Die Intensivschwester sah sie an, als zweifelte sie heftig an dem Verstand der Ärztin. »Hatte da auch einer eine Schädelfraktur?«
»Quatsch! Zu Beginn der Szene sprechen die ein paar Brocken russisch, mit Untertiteln. Ist zufällig mein Lieblingsfilm, deshalb kann ich mich gut daran erinnern.«
»Tja, dann brauchen wir ja nur noch Sean Connery, der für uns übersetzt. Hast du seine Handynummer?«
»Es wird in diesem riesigen Krankenhaus doch jemanden geben, der russisch spricht, oder? Fällt dir jemand ein?«
»Auf der Onkologie ist, glaub ich, ‘ne Schwester, die aus Russland stammt. Tamara Soundso.«
»Ruf mal an, ob sie heute im Dienst ist. Falls ja, soll sie sofort herkommen.«
Während die Schwester zum Telefon eilte, machte Göbel ihren obligatorischen Rundgang bei den anderen chirurgischen Patienten. Bei keinem zeigten sich Komplikationen, die anbrechende Nachtschicht versprach ruhig zu werden.
Kurz darauf ertönte die Klingel, die gebürtige Russin von der Onkologie war im Dienst und hatte tatsächlich Zeit.
»Verstehen Sie, was der arme Kerl erzählt?«
Tamara lauschte einen Augenblick und nickte. »Einerseits ja, andererseits nein«, erklärte sie mit einem harten Akzent. »Ich vermute, er fantasiert heftig.«
»Warum?«
»Er erzählt etwas von Geistern, von lebenden Toten, die zurück auf die Erde gekommen sind, um sich an ihm zu rächen.«
»Aua«, meinte die Ärztin. »Ich glaube, wir sollten ein CT machen lassen. Fragen Sie ihn, wen er mit den Toten meint.«
Interessiert verfolgte Göbel den darauf folgenden Wortwechsel.
»Mhm, er erzählt etwas von einem Adrian. Und er hat Angst, dass ihm die ganzen toten Mudschaheddin ebenfalls erscheinen und ihm etwas antun wollen.«
»Mudschaheddin?«, fragte die Intensivschwester.
»Freiheitskämpfer, soviel ich weiß«, erklärte Göbel stirnrunzelnd. »Klingt nicht gerade nach Wahnvorstellungen, die durch eine Kopfverletzung hervorgerufen werden. Ich habe schon viele Fantastereien gehört, aber so etwas ist neu. Fragen Sie ihn was Normales, nach seinem Namen. Vielleicht bringt ihn das wieder zu uns zurück.«
Die Dolmetscherin nickte und tat, wie ihr geheißen. Der bandagierte Mann schien ihre Frage nicht aufzunehmen. Das Gebrabbel ging weiter.
»Du meinst, da steckt was Wahres dahinter?«, fragte die Intensivschwester, als klar wurde, dass kein wirklich vernünftiges Gespräch in Gang zu bringen war.
»Keine Ahnung. Erkundigen Sie sich doch bitte mal konkret nach diesem Adrian.«
»Okay«, antwortete Tamara und wechselte wieder in ihre Muttersprache.
Kamarov ratterte los und die Russin unterbrach ihn hin und wieder, um eine Zwischenfrage zu stellen. Je länger der Dialog andauerte, umso bleicher wurde ihre Gesichtsfarbe.
»O Gott«, meinte sie, als Kamarov endlich geendet hatte. »Er sagt, er habe diesen Adrian umgebracht. Hat ihm angeblich aus nächster Nähe eine Kugel in den Hinterkopf gejagt, dann die Leiche zerteilt und in ein brennendes Auto geworfen. Und gestern, am Bahnhof, hat der Tote wieder leibhaftig vor ihm gestanden, hat ihn sogar berührt. Und nun hat er eine panische Angst, dass alle, die er jemals getötet hat, wieder auferstehen und sich an ihm rächen wollen.«
»Ich bleibe dabei, der Kerl hat gewaltig was auf die Mütze gekriegt«, grunzte die Intensivschwester. »Der gehört in die Klapse.«
Göbel hob abwehrend die Hand, irgendetwas an der Schilderung Tamaras hatte sie nachdenklich gemacht. Und dann ging ihr ein Licht auf.
»Habt ihr noch die Zeitungen der letzten Tage hier?«
»Ja, im Stationszimmer. Warum?«
Ohne zu antworten, stürzte die Chirurgin davon. Richtig, auf einem Aktenschränkchen, neben den beiden Kaffeemaschinen, türmten sich die Ausgaben der Neuen Rhein Zeitung der letzten Woche. Hastig blätterte sie den Papierstapel durch und fand, was sie suchte.
»Von wegen, der fantasiert. Sieh dir das mal an!«
Die Intensivschwester nahm eines der Blätter in die Hand und überflog den Artikel, auf den die Ärztin ihren Zeigefinger geheftet hatte.
»Ach du liebe Güte«, hauchte sie entsetzt. »Und was machen
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