Der Dorfpfarrer (German Edition)
einfache erlaubte Freundschaft hinaus zu lieben. Véroniques Stirn, Betragen und vor allem ihre Blicke waren von einer Beredsamkeit, welche Männer immer verstehen, und die ebenso energisch sagten, daß sie für die Liebe tot sei, wie andere Frauen durch eine gegenteilige Beredsamkeit das Gegenteil sagen; der Arzt weihte ihr sofort einen ritterlichen Dienst. Schnell wechselte er einen Blick mit dem Pfarrer. Monsieur Bonnet sagte dann zu sich selber:
»Das ist der Blitzschlag, der den armen Ungläubigen verwandeln dürfte! Madame Graslin wird beredsamer sein als ich.«
Der Bürgermeister, ein alter Landmann, der erstaunt über den Luxus dieses Speisesaals und überrascht war, mit einem der reichsten Männer der Provinz zu Mittag zu speisen, hatte seine besten Kleider angelegt; fühlte sich darin aber ein bißchen unbehaglich, wodurch sich seine moralische Verlegenheit vermehrte. Madame Graslin erschien ihm überdies in ihrem Trauergewand maßlos imposant; er blieb daher stumm. Als ehemaliger Pächter zu Saint-Léonard hatte er das einzige bewohnbare Haus des Fleckens gekauft und bestellte die dazugehörigen Ländereien selber. Obwohl er zu lesen und zu schreiben verstand, konnte er seinen Amtsgeschäften nur mit Hilfe des Friedensgerichtsboten nachkommen, der seine Arbeiten vorbereitete; auch wünschte er lebhaft die Einsetzung eines Notars, um auf diesen Ministerialbeamten die Last seiner Amtsgeschäfte abzuwälzen; doch die Armut des Montégnacer Bezirks machte ein Notariat fast zwecklos, und die Bewohner wurden durch die Notare der Bezirkshauptstadt ausgebeutet.
Der Friedensrichter, namens Clousier, war ein ehemaliger Advokat aus Limoges, wo die Prozesse ihn gemieden hatten, denn er beabsichtigte das schöne Axiom, wonach der Advokat der erste Richter des Klienten und des Prozesses ist, praktisch einzuhalten. Gegen 1809 erlangte er diese Stellung, deren magere Einkünfte ihm zu leben erlaubten. Damals war er bei der ehrenwertesten aber vollkommensten Misère angegelangt. Nach einem zweiundzwanzigjährigen Aufenthalte in dieser armen Gemeinde glich der Bauer gewordene Biedermann seinem Ueberrock nach einem Landpächter. Unter dieser fast plumpen Form verbarg Clousier einen scharfsinnigen Geist, der auf hohe politische Erwägungen eingestellt, aber einer gänzlichen Sorglosigkeit verfallen war, die er seiner vollkommenen Kenntnis der Menschen und ihrer Interessen verdankte. Solch ein Mann, der Monsieur Bonnets Scharfblick lange Zeit über täuschte, und der in einer höheren Gesellschaftsschicht eine gewisse Aehnlichkeit mit l'Hôpital gehabt haben würde, war wie alle wirklich tiefgeistigen Leute aller Ränke unfähig und lebte schließlich in dem beschaulichen Zustände alter Einsiedler. Da er sonder Zweifel reich an jeglichen Entbehrungen war, wirkte kein Ansehen auf sein Gemüt, er kannte die Gesetze und urteilte unparteiisch. Sein auf die einfache Notwendigkeit zurückgeführtes Leben war rein und regelmäßig. Die Bauern liebten Monsieur Clousier und schätzten ihn der väterlichen Uneigennützigkeit wegen, mit der er ihre Streitigkeiten schlichtete und ihnen in ihren einfachsten Angelegenheiten mit Rat beistand. Der Biedermann Clousier, wie ganz Montégnac ihn nannte, hatte seit zwei Jahren als Kanzlisten einen seiner Neffen, einen ziemlich intelligenten jungen Mann, bei sich, der später viel zum Gedeihen des Bezirkes beitrug. Des Greises Physiognomie empfahl sich durch eine hochgewölbte breite Stirn. Zwei Büschel weißer Haare standen struppig auf jeder Seite seines kahlen Schädels. Seine gesunde Gesichtsfarbe, seine beträchtliche Körperfülle machten schier glauben, daß er trotz seiner Mäßigkeit wie Troplong und Toullier wacker dem Bacchus huldige. Seine fast erloschene Stimme deutete auf asthmatische Beklemmungen hin. Vielleicht hatte ihn die trockene Luft Ober-Montégnacs dazu bestimmt, sich hier zu Lande festzusetzen. Dort wohnte er in einem kleinen Häuschen, das ein ziemlich reicher Holzschuhmacher, dem es gehörte, für ihn hergerichtet hatte. Clousier hatte Véronique bereits in der Kirche gesehen und sich ein Urteil über sie gebildet, ohne seine Gedanken jemandem mitgeteilt zu haben, nicht einmal Monsieur Bonnet, mit dem er anfing vertraut zu werden. Zum erstenmal in seinem Leben sollte der Friedensrichter sich unter Leuten befinden, die ihn zu verstehen imstande waren. Als diese sechs Personen einmal um den reichgedeckten Tisch saßen, denn Véronique hatte ihren ganzen Hausrat aus
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