Der Dorfpfarrer (German Edition)
Jesus Christus würde ich ihm sagen: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!‹« antwortete sie einfach und mit einem Tone, der dem Pfarrer Tränen in die Augen trieb.
»O Magdalena, das Wort erwartete ich von Ihnen!« rief Monsieur Bonnet, der nicht umhin konnte, sie zu bewundern. »Sie sehen, Sie nehmen Ihre Zuflucht zu Gottes Gerechtigkeit, Sie rufen sie an! Hören Sie auf mich, Madame. Die Religion ist vorweggenommene göttliche Gerechtigkeit. Die Kirche hat sich das Urteil über alle seelischen Prozesse vorbehalten. Die menschliche Gerechtigkeit ist ein schwaches Abbild himmlischer Gerechtigkeit, ist nur ihre blasse, den Bedürfnissen der Gesellschaft angepaßte Nachahmung.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie sind nicht Richter in Ihrer eigenen Seele; Sie hängen von Gott ab,« erklärte der Priester. »Weder besitzen Sie das Recht sich zu verurteilen noch sich freizusprechen. Gott, meine Tochter, ist ein großer Prozeßrevisor.«
»Ach!« machte sie.
»Er ›sieht‹ den Ursprung der Dinge, da wo wir nur die Dinge selber gesehen haben!«
Von diesem für sie neuen Gedanken betroffen gemacht, blieb Véronique stehen.
»Ihnen,« fuhr der mutige Priester fort, »Ihnen, die Sie eine so große Seele haben, schulde ich andere Worte wie meinen bescheidenen Pfarrkindern. Sie, deren Geist so gepflegt ist, können sich bis zum göttlichen Sinn der katholischen Religion erheben, der sich durch Bilder und Worte in den Augen der Kleinen und der Armen ausdrückt. Hören Sie mich gut an, es handelt sich hier um Sie; denn trotz der Weite des Gesichtspunkts, auf den ich mich für einen Moment stellen will, wird es sich doch wohl um Ihre Sache handeln. Das Recht ist erfunden, um die Gesellschaften zu schützen, und ist auf der Gleichheit errichtet worden. Die Gesellschaft, die nur eine Summe von Tatsachen ist, basiert auf der Ungleichheit. Es besteht also ein Mißklang zwischen Tatsache und Recht. Soll die Gesellschaft vom Recht unterdrückt oder begünstigt fortschreiten? Anders ausgedrückt: soll das Recht sich der inneren sozialen Bewegung widersetzen, um die Gesellschaft zu erhalten, oder muß es nach dieser Bewegung eingerichtet sein, um sie zu führen? Seit dem Bestehen der Gesellschaften hat kein Gesetzgeber es auf sich zu nehmen gewagt, diese Frage zu entscheiden. Alle Gesetzgeber haben sich damit begnügt, Tatsachen zu analysieren, die anzugeben, welche ihnen tadelnswert oder verbrecherisch vorgekommen sind, und Bestrafungen und Belohnungen daran zu knüpfen. Das ist das Menschengesetz: es besitzt weder Mittel, den Fehlern zuvorzukommen, noch die Mittel, die Rückkehr zu ihnen bei denen zu verhindern, die es bestraft hat. Die Philanthropie ist ein erhabener Irrtum; sie quält den Körper nutzlos, sie erzeugt den Balsam nicht, welcher die Seele heilt. Der Philanthrop fördert Pläne zutage, äußert Ideen, vertraut ihre Ausführung dem Menschen, dem Schweigen, der Arbeit, Weisungen, stummen und machtlosen Dingen an. Die Religion kennt solche Unvollkommenheiten nicht, denn sie hat das Leben über diese Welt hinaus verlängert. Indem sie uns alle als Gefallene und in einem Zustande der Erniedrigung Lebende erkennt, hat sie einen unerschöpflichen Schatz der Duldsamkeit geöffnet; alle sind wir mehr oder minder weit auf dem Wege zu unserer völligen Wiedergeburt; niemand ist unfehlbar: die Kirche rechnet mit Fehlern und selbst mit Verbrechen. Da, wo die Gesellschaft einen Verbrecher sieht, der aus ihrem Schoße ausgestoßen werden muß, sieht die Kirche eine zu rettende Seele. Und mehr noch. Von Gott, den sie erforscht und betrachtet, beeinflußt, gibt die Kirche die Ungleichheit der Kräfte zu, zieht das Mißverhältnis der Lasten in Rechnung. Wenn sie Euch ungleich an Herz, Leib, Seele, Anlage und Wert findet, macht sie Euch alle gleich durch die Reue. Da, Madame, ist Gleichheit kein eitles Wort mehr, denn wir sind und können alle gleich sein durch die Gefühle. Seit den Gestaltungen des Fetischismus wilder Völker bis zu den anmutigen Erdichtungen Griechenlands, bis zu den tiefen und erfindungsreichen Doktrinen Aegyptens und Indiens, die in heitere und furchtbare Kulte übersetzt worden sind, lebt eine Ueberzeugung im Menschen, nämlich die seines Falls und seiner Sünde, woraus überall der Gedanke der Opfer und des Loskaufs entsteht. Der Tod des Erlösers, der das Menschengeschlecht losgekauft hat, ist das Bild dessen, was wir für uns selber tun können: kaufen wir uns von unseren Irrungen
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