Der Dorfpfarrer (German Edition)
schon vertrockneter Heide wahrzunehmen. Bald waren es rauhe Einöden, wo Wacholderbüsche und Kapernsträucher wuchsen; bald kurzgrasige Wiesen, durch hundertjährigen Schlamm gedüngte fette Erdflächen; kurz, die Trostlosigkeiten, die Herrlichkeiten, die anmutigen, herzhaften Dinge, die merkwürdigen Anblicke der Gebirgsnatur im Zentrum Frankreichs.
Und durch das Sehen dieser an Formen verschiedenen, aber vom gleichen Gedanken belebten Gemälde, der tiefen Schwermut, die sich durch diese zugleich wilde und zerstörte, verlassene, unfruchtbare Natur ausdrückt, gewann diese sie und antwortete ihr auf ihre verborgenen Gefühle. Und als sie durch einen Ausschnitt die Ebenen zu ihren Füßen erblickte, als es irgendeine trockene Schlucht zu erklimmen gab, in deren Sand- und Steinmassen verkrüppelte Sträucher gewachsen waren, und dies Schauspiel von Augenblick zu Augenblick wiederkehrte, überraschte sie der Geist dieser herben Natur und gab ihr Beobachtungen ein, die neu für sie und durch die Bedeutungen dieser verschiedenen Schauspiele hervorgerufen worden waren. Nicht eine Waldlandschaft gibt's, die nicht ihre Eigenheit hat, nicht ein Dickicht, das nicht Analogien mit dem Labyrinthe menschlicher Gedanken darbietet. Welcher Mensch, dessen Geist gepflegt ist und dessen Herz Wunden davongetragen hat, kann in einem Walde lustwandeln, ohne daß der Wald zu ihm spricht? Unmerklich erhebt sich in ihm eine entweder tröstende oder schreckenbringende Stimme, die häufiger jedoch trostreich als schrecklich ist. Wenn man den Gründen der zugleich ernsten, einfachen, sanften und geheimnisvollen Empfindung, die einen dort überkommt, nachspüren möchte, würde man sie vielleicht in dem erhabenen und sinnreichen Schauspiele all dieser, ihren Schicksalen gehorchenden und unwandelbar unterworfenen Kreaturen finden. Früher oder später erfüllt das zerschmetternde Gefühl der Fortdauer der Natur euer Herz, bewegt euch tief und schließlich werdet ihr dort unruhig sein über Gott. Auch Véronique erntete in dem Schweigen dieser Gipfel, in dem Duft der Wälder, in der heiteren Luft, wie sie abends zu Monsieur Bonnet sagte, die Gewißheit göttlicher Gnade. Sie mutmaßte die Möglichkeit einer Ordnung von Tatsachen, die erhabener waren als die, um welche sich ihre Träumereien bislang gedreht hatten. Sie verspürte eine Art Glück. Soviel Frieden hatte sie seit langem nicht empfunden. Verdankte sie das Gefühl der Aehnlichkeit, die zwischen diesen Landschaften und den erschöpften und verdorrten Stellen ihrer Seele bestand? Sicherlich wurde sie mächtig dadurch bewegt; denn zu wiederholten Malen zeigten Colorat und Champion sie sich, als fänden sie sie ganz verwandelt. Véronique bemerkte an einer bestimmten Stelle in den steilen Hängen der Sturzbäche, ich weiß nicht, welche Herbheit. Sie überraschte sich bei dem Wunsche, das Wasser in diesen jähen Schluchten tosen zu hören.
– »Immer lieben!« dachte sie.
Beschämt über dies Wort, das ihr wie von einer Stimme entgegengeschleudert wurde, trieb sie ihr Pferd kühn gegen die erste Zacke der Corrèze an, auf der sie trotz ihrer beiden Führer Warnung hinaufsprengte. Allein erreichte sie den Gipfel dieser die Roche-Vive genannten Bergspitze und blieb dort einige Augenblicke über damit beschäftigt, das ganze Land zu überschauen. Nachdem sie die heimliche Stimme so vieler Schöpfungen, die zu leben begehrten, gehört hatte, empfand sie in sich selber einen Ruck, der sie bestimmte, für ihr Werk jene so sehr bewunderte Beharrlichkeit, von der sie so viele Proben abgab, zu entfalten. Sie band ihr Pferd mit dem Zügel an einen Baum, setzte sich auf einen großen Steinblock, ließ ihren Blick über diesen Raum irren, wo die Natur sich stiefmütterlich erwies, und verspürte in ihrem Herzen die mütterlichen Regungen, die sie einst, wenn sie ihren Sohn ansah, empfunden hatte. Vorbereitet wie sie war, die erhabene Anweisung hinzunehmen, welche dies Schauspiel durch fast unfreiwillige Betrachtungen gab, die ihrem schönen Ausdrucke gemäß ihr Herz gesichtet hatten, erwachte sie dort aus einer Lethargie.
»Da nun begriff ich,« sagte sie zum Pfarrer, »daß unsere Seelen ebensogut bearbeitet werden müssen wie die Erde.« Diese weite Szene wurde durch die blasse Sonne des Novembermonats beschienen. Bereits kamen einige, von einem kalten Winde gejagte graue Wolken von Westen. Es war gegen drei Uhr. Véronique hatte vier Stunden gebraucht, um dorthin zu kommen; doch wie alle, die
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