Der Dorfpfarrer (German Edition)
die man »Schlangenrohr« nannte. Jeder Saal enthält achthundert Männer. Jede der dort stehenden Pritschen beherbergt vierundzwanzig Leute, die alle zwei zu zwei zusammengekettet sind. Jeden Abend und jeden Morgen zieht man die Kette eines jeglichen Paares durch eine das »Plundergarn« genannte große Kette. Dies Garn hält alle Paare an den Füßen fest und läuft an den Pritschen entlang. Nach zwei Jahren hatte ich mich noch nicht an das Geräusch dieser Eisenkette gewöhnt, die einem in jedem Augenblicke wiederholt: »Du bist im Bagno!« Wenn man einen Moment einschläft, bewegt sich irgendein bösartiger Gefährte oder schimpft und erinnert einen daran, wo man ist. Nur ums Schlafen zu lernen, hat man eine Lehrzeit durchzumachen. Kurz, ich habe Schlaf nur gekannt, wenn ich durch übermäßige Ermüdung am Ende meiner Kräfte angelangt war. Wenn ich habe schlafen können, hab' ich wenigstens die Nächte zum Vergessen gehabt. Dort will's was heißen, das Vergessen! In den kleinsten Einzelheiten muß ein Mensch, wenn er einmal dort ist, seine Bedürfnisse in der von der unbarmherzigsten Vorschrift festgesetzten Weise befriedigen lernen. Stellen Sie sich vor, Madame, welche Wirkung solch ein Leben auf einen Burschen wie mich ausüben mußte, der wie Rehe und Vögel in Wäldern gelebt hatte! Wenn ich mein Brot nicht sechs Monate über hinter den Gefängnismauern gegessen hätte, ach, da würd' ich mich trotz Monsieur Bonnets schöner Worte, der, das kann ich sagen, der Vater meiner Seele gewesen ist, beim Anblick meiner Gefährten ins Meer gestürzt haben! In der frischen, freien Luft ging's noch, aber war man einmal im Saal, sei's um zu schlafen, sei's um zu essen, – denn man ißt dort aus Kübeln, und jeder Kübel ist für drei Paare bestimmt, – dann lebte ich nicht mehr. Die wilden Gesichter und die Sprache meiner Gefährten sind mir stets zuwider gewesen. Glücklicherweise gingen wir um fünf Uhr im Sommer, um sieben Uhr zur Winterzeit trotz Wind, Kälte, Hitze und Regen an die Ermüdung, das heißt an die Arbeit. Der größte Teil dieses Lebens spielte sich im Freien ab, und die Luft kommt einem gut vor, wenn man aus einem Saal herausgeht, wo achthundert Männer sich rühren ... Diese Luft, bedenken Sie's wohl, ist Meerluft! Man freut sich an den Brisen, man versteht sich mit der Sonne gut, man kümmert sich um die Wolken, die vorüberziehen, man hofft auf einen schönen Tag ... Ich, ich kümmerte mich um meine Arbeit ... .«
Farrabesche hielt inne, dicke Tränen rannen über Véroniques Wangen.
»O, Madame, ich hab' Ihnen ja nur die rosigen Seiten dieses Daseins geschildert!« rief er, Madame Graslins Gesichtsausdruck auf sich beziehend. »Die schrecklichen, von der Regierung angewandten Vorsichtsmaßregeln, die ständige, von den Stockmeistern ausgeübte Nachforschung, die abendliche und morgendliche Untersuchung der Ketten, die grobe Nahrung, die häßliche Kleidung, die einen jeden Augenblick demütigt, die Qual während des Schlafs, das schreckliche Geräusch von vierhundert Doppelketten in dem tönenden Saale, die Aussicht, füsiliert und mit Kartätschen beschossen zu werden, wenn es sechs üblen Subjekten beifällt, sich zu empören, diese furchtbaren Bedingungen, sind keine von den rosigen Seiten, die ich Ihnen erzählt habe. Ein Mensch, ein Bürger, der das Unglück hatte, dorthin zu kommen, müßte in kurzer Zeit dort sterben. Muß man nicht miteinander leben? Ist man nicht gezwungen, die Gesellschaft von fünf Männern bei den Mahlzeiten und von dreiundzwanzig während des Schlafes zu ertragen und ihre Gespräche anzuhören? Diese Gesellschaft, Madame, hat ihre heimlichen Gesetze; will man sie nicht befolgen, wird man getötet; hält man sie aber ein, wird man ein Mörder! Opfer oder Henker muß man sein! Alles in allem: auf einen Schlag sterben und man wird von diesem Leben geheilt sein. Aber sie kennen sich darin aus, einem Böses zuzufügen, und es ist unmöglich, sich gegen den Haß dieser Menschen zu behaupten: sie besitzen alle Macht über einen Verurteilten, der ihnen mißfällt, und können aus seinem Leben eine immerwährende Höllenpein machen, die schlimmer ist als der Tod. Der Mann, der bereut und sich gut aufführen will, ist ein gemeinsamer Feind, vor allem argwöhnt man, er könnte angeben. Angeberei wird auf den einfachen Verdacht hin mit dem Tode bestraft. Jeder Saal hat sein Gericht, vor dem man die gegen die Gesellschaft begangenen Verbrechen aburteilt. Den Gebräuchen nicht
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