Der Dorfpfarrer (German Edition)
gehorchen, ist strafbar, und in solchem Falle ist ein Mensch für's Urteil reif: so muß jeder mit zu allen Entweichungen helfen; für jeden Verurteilten kommt mal die Stunde, wo er ausreißen kann; eine Stunde, zu der das ganze Bagno ihm helfen, ihn schützen muß. Verraten, was ein Verurteilter im Interesse seiner Entweichung versucht, ist Verbrechen. Nichts will ich Ihnen von den fürchterlichen Bagnositten erzählen; man gehört sich dort buchstäblich nicht. Um die Empörungs- und Entweichungsversuche unwirksam zu machen, koppelt die Verwaltung immer die entgegengesetzten Interessen zusammen und macht so die Kettenstrafe unerträglich. Sie tut Leute zusammen, die sich gegenseitig nicht ausstehen können oder einander mißtrauen.«
»Wie haben Sie es gehalten?« fragte Madame Graslin.
»Ach, ja,« antwortete Farrabesche, »ich hab' Glück gehabt; mich hat das Los nicht getroffen, einen Sträfling zu töten; ich habe bei keinem, wer er auch sein mochte, für den Tod gestimmt; bin nie bestraft worden, nie gegen jemanden eingenommen gewesen und habe gut mit den drei Gefährten gelebt, die man mir nach und nach gegeben hat; alle drei haben sie mich gefürchtet und geliebt. Aber ich war ja auch schon berühmt im Bagno, Madame, ehe ich hineinkam. Ein Fußbrenner! Denn ich galt ja für solch einen Schuft! ... Ich habe brennen sehen,« fuhr Farrabesche nach einer Pause und mit leiser Stimme fort, »hab' mich aber nie zum Brennen hergeben wollen und auch nie Geld von Diebstählen genommen. Ich war ein unsicherer Kantonist, das ist alles. Ich half den Kameraden, spionierte, schlug mich, stand auf einem verlorenen Posten oder war beim Nachtrab, habe aber nie das Blut eines Menschen vergossen, es sei denn bei der Verteidigung meines Leibes! Ach, ich hab' Monsieur Bonnet und meinem Advokaten alles gesagt: auch die Richter wußten sehr gut, daß ich kein Mörder war! Aber dennoch bin ich ein großer Verbrecher: nichts von dem, was ich getan habe, ist erlaubt. Zwei meiner Kameraden hatten bereits von mir als einem Menschen gesprochen, der der schlimmsten Dinge fähig sei. Im Bagno, sehen Sie, Madame, gibt's nichts, was solch einen Ruf aufwiegt, nicht einmal das Geld. Um ruhig in dieser Republik des Unglücks zu leben, ist ein Mord ein Freibrief. Nichts hab' ich getan, um diese Meinung zu zerstören. Ich war traurig, ergeben; in meinem Gesichte konnte man sich täuschen und hat man sich getäuscht. Mein finstres Aussehen, mein Schweigen hat man als ein Zeichen von Wildheit ausgelegt. Alle Welt, Sträflinge, Beamte, die Jungen, die Alten haben mich behutsam behandelt. In meinem Saal hatte ich das erste Wort. Meinen Schlaf hat man nie gequält und nie hab' ich im Verdachte der Angeberei gestanden. Ich habe mich anständig nach ihren Regeln benommen; nie hab' ich einen Dienst verweigert, nie den geringsten Widerwillen bezeigt, kurz, ich habe drinnen mit den Wölfen geheult und draußen zu Gott gebetet. Mein letzter Gefährte ist ein zweiundzwanzigjähriger Soldat gewesen, der gestohlen hatte und seines Diebstahls wegen desertiert war; vier Jahre habe ich ihn gehabt, und wir sind Freunde gewesen. Und wo immer ich auch sein werde, seiner bin ich sicher, wenn er herauskommen wird. Dieser arme Teufel namens Guépin, war kein Verbrecher, war nur ein leichtes Tuch; seine zehn Jahre werden ihn heilen. Oh, wenn meine Kameraden entdeckt hätten, daß ich mich meiner Strafe aus Religiosität unterwarf; daß ich nach Beendigung meiner Zeit in einem Winkel leben wollte, ohne jemanden wissen zu lassen, wo ich sein würde, mit der Absicht, diese furchtbare Bande zu vergessen, und mich niemals auf einen ihrer Wege zu begeben, sie würden mich vielleicht verrückt gemacht haben!«
»Aber dann ist's ja für einen armen und zarten jungen Menschen, der durch eine Leidenschaft fortgerissen und von der Todesstrafe begnadigt ...?«
»Oh, Madame, eine völlige Begnadigung gibt's für Mörder nicht! Man wandelt seine Strafe schließlich in zwanzig Jahre Zwangsarbeit um. Vor allem aber muß man für einen anständigen jungen Mann zittern! Man kann ihm nicht sagen, welch ein Leben seiner harrt! Hundertmal lieber sterben! Ja, auf dem Schafott sterben ist dann ein Glück!«
»Ich wagte es nicht zu denken!« sagte Madame Graslin. Véronique war weiß geworden wie die Weiße einer Kerze. Um ihr Gesicht zu verbergen, stützte sie die Stirn auf die Balustrade und verharrte so einige Momente. Farrabesche wußte nicht, ob er gehen oder bleiben sollte. Madame
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