Der Drache am Himmel
hätte ihr gutgetan, aber finden würde sie ihn sowieso nicht. Den Anblick der Fratze vermochte sie zu verscheuchen, nicht aber den schwefligen Brandgeruch aus der Kiste. Der hielt sich hartnäckig, als sei er ihr ins Kleid geschossen. Severin war immer noch nicht zu Hause. Sie war dankbar dafür, obwohl es sie auch ängstigte. Noch konnte sie wieder aufbrechen und zurückfahren. Lilith und Maurice waren jetzt bestimmt am Kochen. Daran dachte sie und an Henry, der allen ein Freund geworden war, nur ihr nicht. Trotzdem sollte sie ihn jetzt eigentlich anrufen. Warum? Sie wollte sich keinen Vers darauf machen. Verse waren sowieso nur Dichtung … Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung auf Bellinis venezianischem Fest – wie sie getanzt hatten, gut hatten sie miteinander getanzt. Und doch hatte sie ihm instinktiv misstraut. Auch dafür gab es eigentlich keinen Grund. Lauterbach war ein außergewöhnlicher Mann, das hatte sie sofort gespürt. Bereits an jenem Abend wurde sie von der Ahnung gestreift, dass Réa sich in ihn … aber auch das musste sie nicht ergründen. Begründungen hatte sie schon immer misstraut. Das war es wohl. Begründung und Rechtfertigung lagen einfach zu nahe beieinander. Und beide nützten nichts. Sie wurden im logischen Kopf zusammengefügt. Entscheidungen trafen Menschen aber im Herzen oder sogar noch tiefer im Inneren … Das war eine der wenigen wirklich bedeutenden Erkenntnisse, die ihr das Leben zugespielt hatte. Eine andere: dass sie diesen unflätigen Salvatore wirklich geliebt hatte. »Auch das werde ich Severin sagen«, flüsterte Rosa, stand auf, setzte sich an den Tisch und rief Réa an. Die nahm ab und sagte lachend: »Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber vorhin hatte ich kurz den Eindruck, dich in einem alten schwarzen Citroën gesehen zu haben.«
»Ja, du bist an mir vorbeigeradelt.«
»Was? Du hast mich auch gesehen? Um Gottes willen, ist mit Maurice auch alles in Ordnung?«
»Alles bestens. Die beiden sind unten geblieben, es geht ihnen prima.«
»Und du bist in der Stadt! Warum?«
»Frag bitte nicht. Aber du könntest mir einen Gefallen tun: Holst du mich bitte ab? Ich warte im Wagen. In dem schwarzen. Er steht vor Diedrichs Apotheke. Lass uns einfach ein bisschen herumfahren, das wäre gut.«
Stille. Atmen. »Ich komme«, sagte Réa.
Rosa steckte den Schlüssel zur Kapelle in ihre Handtasche. Auch ein Kissen nahm sie mit, um ihren Rücken zu entlasten.
Réa hatte sich nur den orangefarbenen Schal umgeworfen und war dann sofort losgefahren. Sie parkte hinter dem Citroën. Als sie die Alte auf dem Beifahrersitz der Limousine sitzen sah, nahm sie hinter dem Steuer Platz. Sie küsste Rosa auf die Wange. »Da hast du mir vielleicht einen Schreck eingejagt …«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Rosa.
»Und wir sollen wirklich? Mit dieser Riesenschüssel?«
»In so einer hat sogar schon ein französischer General überlebt.«
»Dann ist es ja gut«, sagte Réa und machte sich auf alles gefasst. Bereits auf der Hinfahrt hatte sie überlegt, was Rosa wohl von ihr wollen könnte. Über meine Liebschaft mit Shandar sprechen? Eher unwahrscheinlich, in mein Privatleben würde sie sich nie einmischen. Und dass Rosa von den merkwürdigen Dingen wusste, in die er verstrickt war, hielt sie für völlig ausgeschlossen. Réa begann sich mit dem schweren Fahrzeug vertraut zu machen. Zu Beginn der Fahrt hatte sie Rosa gefragt, ob ihr eine Runde um den See genehm wäre. Rosa hatte sie nur mit müdem Gesicht gemustert und zusammenhanglos gemurmelt, der leuchtende Schal und die schwarze Bolero-Jacke dazu stünden ihr ausgezeichnet.
»Der Schal war ein Geschenk von Severin, aber das weißt du ja«, hatte Réa Minuten später erwidert. Und nochmals verzögert war von Rosa gekommen: »Ein schönes Geschenk.«
Dieser zeitversetzte Wortwechsel hatte Réa irgendwie erleichtert. Es schien nichts Schlimmes zu sein, was Rosa umtrieb, sonst hätte sie das Gespräch bestimmt nicht mit einer Bemerkung über ihre Garderobe begonnen. Sie hatte Rosa immer gemocht. Gemeinsam schweigen konnte sie nicht mit jedem. Vielleicht? Vielleicht bot ihr diese heimliche Ausfahrt die Chance, mit Rosa über ihre Ängste zu sprechen, über Shandar, über die Bedrohungen … Unbegreiflich eigentlich, dass sie Rosas Haus nie als Fluchtort in Erwägung gezogen hatte. »Fährst du wieder zurück?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Rosa, »spätestens übermorgen. Warum?«
Das ist sie, meine Chance. Jetzt oder
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