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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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dann geht gar nichts mehr. R.
    Maurice’ erste Reaktion, kaum dass Lilith mit Vorlesen fertig war: »Ich fass’ es nicht! Will sich keine langen Fahrten zumuten, und nun das!«
    »Und wir sollen uns keine Sorgen machen, holla, die ist gut.«
    Ihr spätes Frühstück unten im Hof neben dem Ziehbrunnen bestand aus Kräutertee, Butter, Feigenmarmelade und, weil sie den fahrenden Bäcker verpasst hatten, aus trockenem Brot vom Vortag; eigentlich aber bestand es aus Vermutungen über Rosas Reise. Ihre Gesundheit? Hatte sie aus einer plötzlichen Sorge heraus unbedingt und sofort ihren Arzt aufsuchen wollen? Oder war vielleicht jemand, der ihr nahestand, verunglückt? Aber einen Krankenbesuch würde Rosa wohl kaum als etwas erledigen bezeichnen.
    »Es muss etwas Konkretes sein. Eine überblickbare Sache. Sonst hätte sie nicht für Donnerstag ihre Rückkehr ankündigen können. Bestimmt muss sie irgendjemandem bei irgendetwas helfen«, versuchte sich Maurice an einer neuen Erklärung.
    »Jemand, der ihr viel bedeutet. Mehr als wir sozusagen«, nahm Lilith den Gedanken auf, »zum Beispiel Severin.«
    »Ja. Meine Mutter wäre genauso. Wenn ich in Not wäre, würde sie auch alles stehen und liegen lassen«, sagte Maurice. »Obwohl sie ja ständig grausam viel um die Ohren hat. Aber das ist eine andere …«
    »Bleiben wir bei Severin. Was könnte der angestellt haben?«
    Die anfängliche Beklemmung über Rosas heimlichen Aufbruch hatte sich etwas gelegt. Je länger sie nach den Gründen suchten, desto wahrscheinlicher schien es Maurice, dass nichts Schlimmes vorgefallen war. Es mochte etwas Wichtiges sein, aber nichts Dramatisches. Nichts Arges. Vielleicht wollte Rosa ja einfach im Stillen irgendetwas aus der Welt schaffen?
    »He! Du müsstest es eigentlich wissen, du wohnst doch im Pfarrhaus. Was, meinst du, könnte mit Severin sein?«, insistierte Lilith.
    »Was weiß ich! Er hat Geld aus dem Opferstock unterschlagen, zum Beispiel.« Maurice grinste. »Würdest du ihm so etwas denn zutrauen?«
    »Natürlich nicht. Das war doch nur Spaß. Severin ist einfach total frustriert. Er versucht es zwar zu überspielen, aber er ist angeschlagen. Die Professur muss ihm verdammt wichtig gewesen sein. Aber natürlich verliert er kein Wort darüber. Das können unsere Alten einfach nicht. Pfarrer, arriviert, alles im Griff. Mal Ängste zugeben? Bloß nicht. Mal Schwäche zeigen? Nie im Leben.«
    »Kannst du das denn?« – »Mmh. Jetzt hast du mich erwischt.«
    »Das war gar nicht meine Absicht. Ich möchte es nur wissen.«
    »Ängste zugeben, Schwäche zeigen? Kommt ganz drauf an, bei wem.«
    »Bei mir zum Beispiel?«, sagte Lilith.
    »Eigentlich würde ich es gern können.«
    »Siehst du! Genau davor habe ich Angst. Ich meine jetzt nicht dich persönlich. Aber ich habe manchmal Angst davor, dass man eigentlich niemanden richtig kennt. Irgendwie traue ich inzwischen allen alles zu. Sogar meiner Mutter. Und meinem Stiefvater Henry sowieso.«
    »Mir auch?«
    »Willst du eine ehrliche Antwort, Maurice? Ja, auch dir.«
    Maurice blickte sie erschrocken an: »Das will ich nicht. Ich möchte … dass wir anders sind. Wir beide. Davon träume ich irgendwie. Dass du mir … Also, dir möchte ich alles anvertrauen können. Es einfach versuchen. Ich habe das noch nie … So stelle ich mir das mit der Liebe vor. Dass ich irgendwie weiß, ich darf das. Ich muss nicht, aber ich darf. Und umgekehrt wüsstest du auch, dass ich … Ich will zu dir stehen, selbst wenn ich mal etwas, was du getan hast, nicht begreifen könnte.« Und weil Lilith nichts darauf sagte, lächelte er verlegen und fügte hinzu: »So etwas würde ich gern versuchen, mit dir.«
    Sie vergaßen Rosas Brief und ihre Vermutungen. Sprachen über Vertrauen und Mut und Geheimnisse und darüber, dass es vielleicht doch auch welche gebe, die jeder für sich bewahren müsse; aber dunkle dürften es nicht sein, keine, die den anderen täuschten. Und Lilith meinte, Vertrauen sei etwas wahnsinnig Wichtiges, viel wichtiger als die Liebe.
    »Ich finde Liebe aber doch irgendwie größer«, widersprach Maurice.
    »Würdest du mich auch lieben, wenn ich dich nicht zurücklieben würde?«
    »Natürlich!« Maurice strahlte sie sehr überzeugt an.
    »Und wie lange hältst du das durch?«
    »Bis du endlich draufkommst, dass ich es ernst meine.«
    »Zehn Jahre?«
    »He, da lässt du mich aber ganz schön lange zappeln!«
    »Siehst du!« Lilith lächelte. »Es gibt schon eine Erwartung bei der Liebe.

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