Der Drache am Himmel
schon ziemlich …«
»Potthässlich war es! Dann sagest du: ›Ich verstehe es nicht. Und möchte deshalb lieber nichts dazu sagen. Ist das okay für dich, Lilith?‹ Da hab ich dich sehr, sehr …«
»Ich dich auch sehr, sehr …«
Von dieser Erinnerung kamen sie auf Träume. Lilith meinte, sie träume in letzter Zeit verflucht konkret. Zum Beispiel stehe sie an der Staffelei und male und fühle sich gut. »Doch dann fließen die frisch aufgetragenen Farben die Leinwand runter und tropfen ins Leere. Irgendwie bleibt die Leinwand immer weiß.« Das wiederum brachte Maurice auf einen Traum, in dem er durch eine hitzeflirrende Sandwüste hastet. Ab und an wirft er einen Blick zurück, kann aber keinerlei Spur von sich entdecken. »Ich erinnere mich, dass ich regelrecht beleidigt war. Nicht einmal mein letzter Fußabdruck war da!«
»So wie bei Henry!«, murmelte Lilith.
»Wie meinen?«
»Nur so ein Gedanke von mir. Vergiss es.«
Maurice grinste. »Das ist erwiesenermaßen die unsinnigste Aufforderung, die es gibt. Also erzähl schon.«
»Und erwiesenermaßen halten Männer nichts von weiblicher Intuition.« Maurice dementierte heftig; also erzählte Lilith schließlich doch.
»Nur so ein Gedanke halt«, begann sie.
Beim Umzug in die Stadt war einer von Henrys Koffern fälschlich in ihr Zimmer gestellt worden. Sie hatte ihn durchstöbert. Eine auffallend bauchige Mappe, beschriftet mit den Worten Personal Documents , Montreal, enthielt bloß eine Menge Werbeflyer. Das fand sie schon seltsam genug. In einer zweiten Mappe entdeckte sie ein Paperback über irgendein religiöses Thema sowie eine Membercard der Universitätsbibliothek von Toronto, ausgestellt auf den Namen Mr Heinrich Lauterbach.
»Heinrich? Wirklich?«
»Ja.«
Der Ausweis war ohne Foto. Ein Bild von Henry fand sie erst, als sie das Buch durchblätterte und ihr eine kanadische driving licence vor die Knie rutschte: Sie zeigte ohne jeden Zweifel ihren Stiefvater – wiederum ausgewiesen als Heinrich Lauterbach. In einem roten Schnellhefter stieß sie schließlich auf einen Umschlag mit Familienfotos. Doch Henry war auf keinem zu sehen. Ein Bild zeigte ein sich aufbäumendes Pferd beim Rodeo, umringt von begeisterten Zuschauern. In Deutsch stand auf der Rückseite: Unser Junge als mutiger Cowboy. Doch auf dem Sattel saß überhaupt keiner. »Niemand! Verstehst du, Maurice? Keine Spur von einem Jungen. Und auch in den Personalpapieren: keinerlei Hinweis auf eine lebende Person.«
»Schon merkwürdig, stimmt.«
»Weißt du, was mir zu diesem Foto einfiel? Aber lach mich nicht aus. Mir fiel ein, dass es diesen Henry beziehungsweise Heinrich gar nicht wirklich gibt.«
»Das ist jetzt wohl ein Beispiel für die berühmte weibliche Intuition?«
»Mach dich nicht lustig über mich.«
»Natürlich nicht! Nur gibt es ihn eben ganz real. Und fast alle mögen ihn. Innerhalb kürzester Zeit hat er sich in Merlingen viele Freunde gemacht.«
»Stimmt!«, knurrte Lilith. »Er ist immer da, wenn jemand ins Schleudern kommt. Allzeit bereit. So’n Freund will doch jeder. Aber so ein Mensch müsste doch eigentlich auch eine ganze Menge Leute von früher im Schlepptau haben. Hat er aber nicht. Wir kennen niemanden aus seiner Vergangenheit. Verstehst du?«
»Ich habe gehört, er habe schon früh seine Eltern verloren.«
»Ja, schon. Trotzdem. Wenn er dort derselbe gewesen ist wie hier, dann muss er Freunde, Bekannte, Beziehungen gehabt haben. Oder es ist irgendetwas schiefgelaufen. Aber was? Er könnte zum Beispiel jahrelang im Gefängnis gesessen haben. Dann kam er raus und nahm sich vor, nie mehr etwas Böses zu tun. Aber im Grunde ist er gar nicht so brav, sondern tut nur so. Und, was sagst du jetzt? Bravo, kluge Lilith, saubere Beweisführung?«
Maurice verspürte eine sonderbare Beklemmung. »Hast du das alles schon mal jemandem erzählt?«
»Mmh. Ja. Einmal. Rosa, nur Rosa.«
Rosa rüttelte verärgert an der Türklinke. Aber Benedikts Taverne war geschlossen. »Dann lass uns in die Stadt zurückfahren«, schlug sie Réa vor. Es dämmerte bereits und aus grauen Himmeln begann es zu nieseln. Ein unsichtbarer Regen war es, nur seiner Spuren wegen zu ahnen: dunstige Schleier aus winzigen Tröpfchen. Weil die Intervallschaltung defekt war, musste Réa die Wischer von Hand ein- und ausschalten; im Dauerbetrieb verursachten sie auf dem Glas ein nervendes Ächzen.
Die alte Dame schien irgendwie verändert. Réa fiel auf, dass Rosa kerzengerade in ihrem
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