Der Drache am Himmel
Ist ja irgendwie auch logisch. Aber bei Vertrauen ist das anders. Deshalb …«
»Wieso? Da erwarte ich doch auch, dass der andere mein Vertrauen nicht missbraucht.«
Lilith blickte ihn zweifelnd an und schüttelte den Kopf: »Ich stelle mir Vertrauen irgendwie total vor. Ohne Netz und doppelten Boden. Ganz ohne irgendeine Bedingung. Ich würde es gern einmal einfach so verschenken. Dir zum Beispiel. Ich weiß auch nicht. Irgendwie bring ich es nicht so raus, wie ich möchte. Vielleicht so: Du musst mir nicht beweisen, dass du vertrauenswürdig bist. Ich möchte dir einfach so vertrauen. Zum Beispiel gerade jetzt könnte ich dir mein Vertrauen schenken, ohne etwas dafür zu erwarten. Wenn du es missbrauchst, habe ich einfach Pech gehabt. Du wärest mir nichts schuldig. Capito? Oder spinne ich?« Lilith lachte, weil Maurice sie mit ulkig gekrauster Nase anstarrte. Der rettete sich, indem er einen Kiesel aufpickte, einen Sprung zum Ziehbrunnen tat und das Steinchen in die Tiefe fallen ließ. Es dauerte, bis von weit unten ein kleines Ploppen zurückkam. Erst dann wandte sich Maurice ihr wieder zu. Er hatte Tränen in den Augen.
»Oh! Habe ich dich …«, murmelte Lilith verdattert.
»Nein. Ich liebe dich einfach«, sagte Maurice.
Sie schaute ihn an und dachte, dass ihnen zwei ganze lange Tage allein gehörten. Und bestimmt würde sein Mund jetzt nach Feigenmarmelade schmecken.
Rosa zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als ihr klar wurde, dass die Radlerin, die sie eben überholt hatte, Réa war. Dabei sollte doch niemand wissen, dass sie in der Stadt war. Aber sie beruhigte sich schnell: Nie würde Réa sie mit diesem fremden Wagen in Verbindung bringen. Sie parkte kurz hinter der Feuerwehrkaserne bei Diedrichs Apotheke. Das Aussteigen war eine Qual. Der Schmerz aus dem Rückgrat schoss ihr in die Beine. So humpelte sie die Vorgärten entlang zum Pfarrhaus. Betrat die Halle, in die durch die spaltweit geöffnete Küchentür spärliches Licht fiel. Severins Mantel hing tatsächlich als schlaffe Hülle an der Garderobe. Doch Rosa unterdrückte den Reflex, die Taschen zu durchsuchen. Was sie suchte, wenn sie es denn suchen wollte, war sowieso nicht darin.
Stattdessen klammerte sie sich an den Knauf des Geländers, um beim Abstreifen der Schuhe nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Alles tat ihr weh. Nur die Kühle an ihren Füßen empfand sie als wohltuend. »Immerhin«, murmelte sie und warf ein paar Hallos in die Düsternis des Hauses, obwohl sie außer etwas Echo nichts erwartete. Als neue Wohltat entdeckte sie den kugeligen Knauf in den Händen: seidenglattes, warmes Holz. Sie streichelte es. Schüttelte sich die Beine aus. Rollte die Schultern. Atmete tief ein und aus. Wenigstens verhielt sich der Schmerz neutral. Sie wagte sich weiter vor. Trippelte durchs Dunkel. Ging im Kreis. Machte längere Schritte. Versuchte einen Rhythmus zu finden. Flocht ins Schreiten ein paar Tanzschrittchen ein. Breitete die Arme aus. Ließ sie kreisen und fast hätte daraus ein Flügelschlag werden können. Der Schmerz wurde erträglicher. Und sie ging in die Küche.
Sie trank und aß. Nach zwei Gläsern Wasser schenkte sie sich aus einer offenen Flasche ein Glas Wein ein und nahm Brot dazu, das sie in den Wein tunkte, bevor sie es aß. Es war eine alte Marotte, die ihr stets den Spott aller Weinliebhaber eingetragen hatte. Daran erinnerte sie sich und an Salvatores theatralisches Entsetzen: » In vino perversitas «, hatte er gesagt und krachend gelacht. Rosa spürte Tränen, dann Zorn und dann die Energie.
Sie konnte es kaum fassen, dass ihr erster Handgriff in die bewusste Schublade ein Brillenetui hervorbrachte, darin ein Schlüssel. Wie Hohn kam es ihr vor, dass sich ein Geheimnis so schäbig tarnte. Zweifel, dass der Schlüssel passen würde, hatte sie trotzdem keine.
Die Sakristei, der lange Weg zwischen den Bänken, die Wendeltreppe. Die Michaelskapelle war leer bis auf einen Tisch, zwei Stühle sowie eine Holz- und eine Eisenkiste, Letztere verborgen unter einem Stück Stoff. Darin befanden sich Werkzeuge, Drähte, Kabel und sonstiger Wirrwarr. Sie hob den Deckel der Holzkiste an – und traute ihren Augen nicht. So banal es war, so schrecklich auch: Die herausquellenden Augen eines Maskenkopfes starrten sie an.
Wieder im Pfarrhaus, zog sie sich in ihr Zimmer zurück, setzte sich auf die Bettkante und legte den Schlüssel aufs Kopfkissen. Dort lag er und hielt sie davon ab, sich aufs Bett zu legen. Schlaf
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