Der Drache am Himmel
feige »man«! »Man« ist niemand! Und trotzig sagte sie laut: »Ich! Ich kann Fehler ausbügeln. Ich kann Fehler wiedergutmachen, ich kann es!«
Dabei entging ihr, dass der Lkw, der vorgab, für Sie zu fahren, vor ihr die Ausfahrt zu einer Raststätte genommen hatte. Irritiert und zugleich vage empört bremste sie ab, als er sich zwischen zwei geparkte Lastzüge schob und anhielt. So stand sie dann mit ihrem Wagen da, weder bestellt noch abgeholt, ein bloßes unnützes Accessoire. »So ein Schelm …«, rief sie, obwohl ihr eigentlich ein viel kräftigeres Wort auf der Zunge gelegen hatte, »… verlässt einfach die Spur, fährt einfach raus!« Sie stellte den Motor ab. Legte die Hände in den Schoß. Hatte Tränen in den Augen. Dann ihr kindliches Flüstern: »Bitte, lieber Gott, mach, dass Severin nichts damit zu tun hat.«
Sie fuhr weiter. Bekam Rückenschmerzen. Noch zweimal verließ sie die Autobahn, um einen Kaffee zu trinken. Je stärker ihre Schmerzen wurden, desto ehrlicher wurde sie mit sich. Der Tag dämmerte. Der Verkehr nahm zu. Ihre Gedanken wurden immer schwerer. Im inneren Zwiegespräch suchte sie nach Lichtblicken. Ließ den Zweifel zu Wort kommen: Im Grunde weiß ich doch gar nichts. Ließ sich von der Hoffnung hinreißen: Das ist doch vollkommen unvorstellbar! Aber sie ahnte, dass ihr Schmerz keine Ausflucht duldete. Zwar quälte er im Rücken, doch was litt, war ihr Herz. Eigentlich hatte sie von Beginn an einen intuitiven Verdacht gehabt. Sie wusste doch um Severins dunkle Neigungen. Seit der Internatszeit, als Salvatore Aldo und Severin aus ihren Verstrickungen herausgekauft hatte, wusste sie darum. Herausgekauft, freigekauft war nicht geheilt. Ihr Mutterherz wusste: Im Verborgenen war alles noch da. All die Jahre über hatte sich ein unbestimmtes Gefühl in ihr gehalten, einmal, irgendwann einmal würden Severins dunkle Kräfte wieder zum Ausbruch kommen. Als dann die Zeitung zum ersten Mal über einen Maskierten berichtete, der in der Stadt sein Unwesen trieb, hatte sie an Severin denken müssen – und ihren Verdacht verflucht. Nur um dennoch tagelang mit ängstlichen Blicken sein Gesicht abzutasten, es abzusuchen nach irgendwelchen verräterischen Regungen. Lächerlich war sie sich dabei vorgekommen. Geschämt hatte sie sich und ihren Sohn insgeheim um Verzeihung gebeten. Aber ihr einfältiges, ihr ahnungsvolles Mutterherz hatte sich nicht besänftigen lassen.
Grenze und Zoll wurden angezeigt und Rosa stellte erschrocken fest, dass sie sich nicht erinnern konnte, wie sie die Péage hinter sich gebracht hatte. Wie abwesend ich bin, gefährlich!, dachte sie. Ach, mein ängstlicher Blick! Schon seit ich mein Baby im Arm hielt, den winzigen Severin, und in seinem Gesichtchen nach Salvatores Zügen forschte, habe ich ihn. Rosa kniff die Augen zusammen, um das Bild zu vertreiben, und stieß in ein halblautes Selbstgespräch vor. »Wie monströs diese Prüfung war! Und dabei so unnötig. Es gab kaum Ähnlichkeiten. Jedenfalls nicht augenfällige. All meine Befürchtungen – gegenstandslos. Könnte es jetzt nicht auch wieder so sein? Was, wenn alles nur ein dummer Wahn ist? Aber ich brauche endlich Gewissheit. Ich muss es endlich wissen. Nur deshalb bin ich hier auf der Straße. Unterwegs zu dir, Severin, nur deshalb. Es muss Schluss sein mit diesen quälenden Vermutungen. Ich will dich nicht mehr belügen. Und auch du sollst nicht mehr lügen müssen.«
Und zum ersten Mal, seit sie losgefahren war, begann sich Rosa die Begegnung mit Severin auszumalen. Damit würde sie beginnen oder damit oder auch nicht, denn vielleicht würde sie als Erstes den Schlüssel zur Michaelskapelle suchen, zu der seit Jahren niemand außer Severin Zutritt hatte. Dort, auf der Wendeltreppe zum heiligen Raum über der Eingangspforte, hatte ihr ängstlicher Blick ihn einige Male verschwinden sehen; zum letzten Mal am späten Abend nach der Trauerfeier für Katja.
Liebe Lilith, lieber Maurice.
Ich lasse Euch für zwei Tage oder drei allein. Es muss sein. Macht Euch keine Sorgen. Habt einfach eine schöne Zeit. Ich muss etwas erledigen. Den Wagen lasse ich Euch da. Ein Freund im Dorf leiht mir seinen. Ich umarme Euch. Spätestens am Donnerstag bin ich zurück. Ich habe die drei Tage mit euch sehr genossen. Eure Rosa.
Noch das: Seid mir nicht böse, dass ich Euch nicht eingeweiht habe. Manchmal schafft man etwas nur, wenn man es zuvor mit niemandem bespricht. Sonst erkennt man sofort alles, was dagegensteht, und
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