Der Drache am Himmel
achtzehn. Da spielt doch noch alles verrückt. Die Gene. Die Hormone. Die Phantasien. Ich wüsste gar nicht, wie ich das Jahr nach dem Tod meiner Mutter überlebt hätte ohne unsere kleinen Abenteuer. Das weißt du doch noch? Wie gemein sich Salvatore danach aufgeführt hat. Ich meine, er hatte sich ja längst von meiner Mutter entfernt. Innerlich. Aber hätte er mir nicht wenigstens meine Trauer lassen können?«
Severin überspielte mit einem Lächeln und Nicken, dass ihn ganz andere Erinnerungen im Griff hielten. Erinnerungen, von denen Aldo nichts wissen konnte. Wenn er allein aufgebrochen war, damals, bestimmt ein Dutzend Mal, war er nicht bloß in nächtliche Gärten oder lichtlose Lokale eingedrungen, sondern in viel dunklere Sphären. Er hatte Ängste entdeckt, die er mühsam überwand und die sich unversehens in Lust verwandelten. Aus Ekel war Faszination entstanden.
Aus dem kleinen Voyeur wurde ein omnipotenter Nachtgeist. Und weil ihm die Dunkelheit immer vertrauter wurde, verlor sie ihre schützende Wirkung. Also begann er sich zu vermummen. Jetzt war er irgendwer und damit unantastbar. Die entblößten Menschen, in deren Räume er starrte, gingen ihn nichts an. Aber gerade darin lag der Reiz. Je fremder sie waren, desto verfügbarer. Genügte das Schauspiel, das sie ihm boten, nicht seinen Ansprüchen, was eigentlich immer der Fall war, empfand er häufig den Impuls, sie zu strafen. Sie zu Tode zu erschrecken. Aber so weit kam es damals nie. Er traute sich nicht aus der Deckung. Dabei trugen die Figuren, die er ausspähte, die Schuld ganz allein. Schamlos, was sie trieben. Damit verführten sie ihn zu seinen Lüsten. Weil sie es taten, musste er sie beobachten. Umgekehrt hatte er ein Anrecht darauf, dass sie ihm etwas boten … Auf eine verquere Art bedingten sie einander. Irgendwie waren sie sogar eins. Und manchmal fragte er sich, ob er eigentlich nicht bloß sich selbst beobachtete.
Wenn er dann in den Morgenstunden leise in das Zimmer zurückgeschlichen kam, das er sich mit Aldo teilte, und ebenso erschöpft wie unbefriedigt ins Bett kroch, empfand er jedes Mal gallbittere Scham. Und schwor sich, es sei das letzte Mal gewesen. Ganz bestimmt. Er konnte lange kein Auge zumachen. Schließlich weinte er sich in den Schlaf.
Und auch jetzt, als er daran dachte, kamen ihm die Tränen.
Aldo bemerkte sie und er sagte mit von Trunkenheit schleifender Stimme: »Ja, das waren schöne Zeiten, wilde Zeiten! Und sie kommen nie zurück. Hat dich die Wehmut gepackt?«
»Es geht mir schon etwas nahe …« Gerade noch hatte Severin gespürt, dass er Aldo hätte ins Vertrauen ziehen können. Müssen vielleicht. Ihm von seinen Alleingängen als vermummter Narr erzählen. Von seiner Lust daran, Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber der Moment war vorbei. Er hatte ihn ungenützt verstreichen lassen.
Aldo erinnerte sich längst einer anderen Heldentat. »Aber das Beste, find ich, war der Tierarzt! Der trieb es doch mit dieser drallen … wie hieß sie gleich? Eine heiße Nummer jedenfalls. Wie sein Kugelbauch gegen ihren Hintern klatschte! Wenn sich Carla mal beklagte, ich sei etwas gar derb, habe ich immer gesagt, ich sei halt von einem Tierarzt aufgeklärt worden!« Aldo lachte hell auf und Severin entrang sich ein Lächeln. So war es nun mal. Vorbei war vorbei. »Ja, ich erinnere mich«, räumte er ein.
Draußen wurde es allmählich heller. Ein neuer Tag brach an. Die Fensterscheiben zum See wirkten schon wie mit rötlichem Glimmer besprüht. Am liebsten hätte Severin auf der Stelle das Clubhaus verlassen und wäre dem Tag entgegengesegelt oder lieber noch gerudert – allein mit sich selbst, im Takt der Schwünge, ohne Unterlass voran und hinaus ins Niemandsland, das weit draußen hinter den Nebelschlieren lag und jeden aufnahm. Aldo würde ihn verstehen. Doch Severin blieb.
Sein Freund war ans Fenster getreten und blickte hinaus. Entrückt stand er dort, von der Morgenstimmung in den Bann geschlagen. Severin betrachtete ihn mit einer gewissen Rührung. Ihm geht es doch viel schlechter als mir. Wie hätte ich ihn auch noch mit meiner Beichte belasten können? Er kennt ja solche Gelüste nicht. Ich eigentlich auch nicht mehr … Bis dieser Narr auftauchte. Seit die Zeitungen berichten … dass da einer ist wie ich. Irgendwo draußen in der Stadt! Das wühlt mich auf. Das ja. Aber es darf keine Bedeutung haben! Und da ist ja auch Réa. Sie würde mich zu halten wissen, das würde sie! Oder etwa
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