Der Drache am Himmel
lange haben wir das nicht mehr gemacht, einfach zusammen losziehen, auf Biegen und Brechen …« Er grinste und machte heldenhaft vor, was er meinte, bog Zweige weg und brach die widerständigen einfach ab.
Aldos trunkene Ausgelassenheit steckte auch Severin an. Lachend erreichten sie das Clubhaus. Aldo schloss die Tür auf. Um nicht aufzufallen, machten sie nur im Eingangsbereich Licht. In der Clubbar schimmerte durchs Glas einer Vitrine Salvatores Pokal. Doch sie war verschlossen. Aldo rüttelte an der Tür.
»Geht nicht«, sagte Severin, »pass auf …«
»Lieb Vater mein, lieb Vater mein, wo mag denn nur das Schlüsselchen sein?«, krächzte Aldo, rüttelte weiter und schlug jäh zu. Es klirrte. Er drückte zwei Glaszacken weg und schon hatte er den Pokal in der Hand. Er raffte sich zu einer stolzen Haltung auf:
»Und hiermit übergebe ich diesen Becher dem edlen Sieger. Im Namen des Vaters und seines missratenen Sohnes und … voll des Heiligen Geistes!« Er wieherte los, verschluckte sich und kam ins Husten, keuchte noch »Nimm ihn!«, was Severin überhörte, und schon schlug der Pokal am Boden auf.
»Du Spinner!«, rief Severin. »Zeig mal deine Hand! Die blutet bestimmt.«
» C’è solo l’imbranato che si ferisce da solo quando mena! Nur Stümper verletzen sich selbst. Auch so eine Weisheit meines Padrone.«
Wundersamerweise war Aldos Hand tatsächlich unverletzt. Severin hob die Trophäe auf und stellte sie in das Glasschränkchen zurück.
Aldo greinte übermütig: »Mamma mia, da hat doch jemand die Vitrine eingeschlagen! Bestimmt, um den Pokal zu klauen. Nur gut, dass wir gerade noch rechtzeitig gekommen sind, um diese Schandtat zu verhindern.« Und er schloss dröhnend: »Mein Freund, nimm das Becherchen an dich, hier ist es nicht mehr sicher.«
»Ich mache uns jetzt einen Tee, du Spinner«, gab Severin trocken zurück. Aldos Attacke auf die Vitrine hatte ihn ernüchtert. Mit Entschiedenheit schaltete er den Wasserkocher an und suchte in den Schubladen der Bar nach Tee und Zucker. Derweil begann Aldo singend die Glasscherben vor der Vitrine einzusammeln: » Volare, hoho, cantare …« Und schlitzte sich prompt den Daumen auf. Nun hatte sich Salvatores Spruch vom Stümper, der sich ins eigene Fleisch schneidet, also doch noch bewahrheitet. Aldo starrte kurz auf den Tropfen Blut, der aus seinem verletzten Finger getreten war, und nahm dann mit schwülstigem Timbre seinen Gesang wieder auf: »Mein heilig Blut, sangue mio sacro. Hoho. Cuor mio stremato …«
Severin warf ihm ein Handtuch zu. Plötzlich fühlte er sich an den Clown erinnert, der Aldo einmal war, damals, zu Internatszeiten. Und an ihre heimlichen Streifzüge im Dunkel der Nacht. Zunächst hatten sie nur Schabernack im Sinn, aber dann … Laut fluchte er: »Wo ist denn nur der verdammte Tee?«
»Bist du blind? Da oben steht er doch.« Aldo griff in ein Regal und reichte Severin eine leicht verbeulte Dose.
Ihre nächtlichen Aktivitäten waren nie aufgedeckt worden. Seine Alleingänge schon gar nicht … Des Internats verwiesen wurden sie dann wegen dieser Bagatelle, diesen entwendeten Prüfungsbogen.
»Wie früher!«, krächzte Aldo, als übten sich ihre Gedanken im Paarlauf. »Nur dass ich damals nie einen Tee angerührt hätte. Erinnerst du dich noch an den Kiosk? Dieses Hochglanz-Paradies! Paradiso della nudità! Gina Lollobrigidas Busen! Mir wollten die Augen aus dem Kopf springen, mir katholischem Unschuldsengel.«
»Nein!«, sagte Severin barsch. »Ich erinnere mich nicht.«
»Lügner! Mein Schwanz ist übrigens noch dran.«
»Was soll denn das nun wieder?«
»Du hast mich doch damals davor gewarnt, nach dem Saufen direkt ins Feuer zu pinkeln. Weil der Alkohol im Strahl … Also, mir würde sofort der Schwanz flambiert. Stimmte gar nicht! Meiner ist noch dran … Für mich also doch keinen Tee. Um der alten Zeiten willen: una birra! «
Sie blieben bis zur Morgendämmerung; Severin hielt sich an Tee, Aldo ans Bier. Dabei kamen sie von jenem abenteuerlichen Jahr nicht mehr los, das Jahrzehnte zurücklag. Gemeinsam erinnerten sie sich daran, was sie alles angestellt hatten: im Frühling als Strolche, im Sommer als Voyeure und im Herbst als Brandstifter. Sie hatten das Gleiche erlebt und doch nicht dasselbe. Dass sie im Dorfladen Abführtropfen in die Milchbeutel gespritzt oder fast den Kiosk in Brand gesetzt hatten, waren für Aldo nichts als Dummejungenstreiche. »Hör mal, Severin«, sagte er, »wir waren gerade mal
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