Der Drache am Himmel
absolute Mehrheit liegt bei 46. Stimmen haben bekommen: Adrienne Siebenthal 7, Severin Belzer 39, Henry Lauterbach 44. Ich stelle fest: Im ersten Wahlgang konnte keiner der Kandidaten die erforderliche Stimmenzahl auf sich vereinigen. Meine Damen und Herren, liebe Mitglieder, es kommt also zu einem zweiten Wahlgang.«
Jetzt herrschte Totenstille im Saal. Die einen blieben stumm, weil sie dieses skandalöse Ergebnis erst einmal verdauen mussten, die anderen wahrscheinlich, um ihren Überraschungscoup auszukosten. Ich selbst verspürte eine seltsame Mischung aus Freude und Pein. Intuitiv wusste ich, dass ich mich jetzt nicht vom Stolz benebeln lassen durfte … Severin massierte sich den Nasenrücken und schaute betreten drein. Aldo wirkte bestürzt, vielleicht auch überfordert, jedenfalls unglücklich. Man hätte meinen können, die Demütigung sei ihm widerfahren. Er bemühte sich um Blickkontakt zu Severin, der aber schaute in eine unbestimmte Weite. Ich spürte, wie sich alles auf uns drei konzentrierte. Vielleicht legte ich deswegen Severin die Hand auf die Schulter. Er schaute mich mit irgendwie vertrauensseligen Kinderaugen an. Das gab den Ausschlag. Erste Stimmen meldeten sich. »Weitermachen«, sagte jemand. Ein paar versuchten es mit Klatschen, das aber sogleich erstarb. Die Herren auf dem Podium steckten die Köpfe zusammen und Loretan sagte ins Mikrofon, der Vorstand benötige noch eine kurze Auszeit. Einige lachten.
Auf dem Weg nach vorn schoss mir kurz der Gedanke durch den Kopf, dass ich schon wieder im Begriff war, für einen Freund in die Bresche zu springen. Für Aldo hatte ich in der Bank interveniert, für Severin im Segelclub, nun bereits zum zweiten Mal.
Ich bat ums Wort. Sagte, dass dieser Club solche Spielchen nicht nötig habe. Die Stimmen für mich seien unverantwortlich, ja beinahe schon kriminell , weil man mich ja gar nicht kenne. Dabei griff ich auf Groucho Marx’ Spruch zurück, er wolle keinem Verein angehören, der ihn als Mitglied aufnehme. Das gelte sinngemäß auch für die Wahl in Vorstände. »Nur ich kann beurteilen, ob ich eine gute Wahl bin. So eingebildet bin ich dann schon, dass ich mich auf mein Urteil verlasse. Wer mir das Vertrauen ausgesprochen hat, muss also auch meiner Einschätzung vertrauen. Und die lautet: Belzer ist besser als Lauterbach. Ich stehe als Vorstandsmitglied nicht zur Verfügung! Was kann denn ich dafür, dass einige von Ihnen ihren Ärger über die hohen Kirchensteuern offenbar an unserem Münsterpfarrer auslassen mussten?«
Das kam an. Die Stimmung im Saal entspannte sich. Hatte sich der Club halt wieder einmal eine kleine Posse geleistet, die dereinst als Anekdote die Vereinsgeschichte bereichern würde.
Auch Severin schien sich gefangen zu haben. Geschickt hängte er sich gleich an meinen Beitrag an. Er bitte nicht um Nächstenliebe, sondern nur um das Vertrauen, dass er gute Arbeit zu leisten vermöge. Im Übrigen danke er für die Kirchensteuer, davon lebe es sich ausnehmend luxuriös …
Eine halbe Stunde später hatte eine aufgeräumte Gemeinschaft mit über achtzig Stimmen Severin Belzer in den Vorstand delegiert und die Übergabe des Pokals an ihn freundlich beklatscht. Loretan hielt eine geradezu liebevolle Laudatio auf ihn. Man durfte sich wundern, so man sich nicht schämen wollte. Nur war für Reflexionen keine Zeit.
Die viel gerühmte Cucina volante des Städtchens hatte im Nebenraum ein delikates Büfett aufgebaut. Beim Essen wurde ich mehr oder weniger verstohlen zu meiner Rede beglückwünscht. Ähnlich diskret wurde mir anvertraut, so klar sei der Regatta-Verlauf nun doch nicht gewesen – »Respekt, Henry! Ihr Verzicht auf Protest beweist Größe.« Das kam, nebenbei gesagt, von Loretan. Auch Severin und Aldo waren, jeder für sich, darauf erpicht, mich beiseitenehmen zu können. Severin dankte mir mit einem eindringlichen Blick, den ich nicht einordnen konnte. Aldo gestand mir, er sei »voll der Versuchung erlegen« und hätte für mich gestimmt.
»Versuchung?«
Verlegen sagte er: »Na ja. Wäre wohl ein Sündenfall gewesen. Immerhin ist Severin mein bester Freund.«
Jäh stand mir meine Vergangenheit (wenn ich das so nennen darf) vor Augen. Mit Versuchungen wollte ich nie mehr etwas zu tun haben! Ich hasse das Wort. Es steht für die Delegation von Verantwortung. Ich blickte Aldo an und verspürte eine irrationale Aufwallung von Zorn und Ekel. Übertrieben harsch sagte ich: »Damit habe ich nichts zu tun. Ich habe dich zu
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