Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
Vom Netzwerk:
produziert, gut und günstig. Mit Stoffen aber war er gescheitert. Aldo blickte mich entzückt an und schickte dann ein Grinsen zur Wand, an der Salvatores Porträt hing: » Ecco, caro mio . So ist das!«
    Für den kreativen Aufbruch wechselten wir in Aldos Arbeitszimmer im ersten Stock. Aldo öffnete die Tür und trat beiseite: »Sie betreten nun, mein Herr, das geheime Nervenzentrum des Bellini-Imperiums.« Auf den Seidentapeten an den Wänden tänzelten luftige Fabelwesen durch wehende Girlanden, auf dem Parkett ballte sich die ganze Wucht des viktorianischen Zeitalters.
    »Hat Carla auf Bali entdeckt«, sagte Aldo und meinte nicht das Mobiliar. Schreibtisch, Sekretär und Sitzgruppe stammten noch aus Salvatores Zeiten, erklärte er. Plötzlich kam mir der Raum unheimlich vor. Ich traute den Girlanden zu, dass sie jäh aus den Wänden schießen könnten, um das bellinische Nervenzentrum mitsamt Mobiliar zu überwuchern …
    Wir begannen zu arbeiten. Mein Gefühl war nicht das beste, aber Aldo blieb konzentriert bei der Sache. Die Unternehmensberater hatten die Schwachstellen der Création Bellini schonungslos offengelegt. Produktion zu teuer, Logistik zu träge, Marketing bieder, Kalkulation fahrlässig – und zudem noch dieses zu sehr und jenes zu viel und die Währungsrisiken zu groß . Lob gab es nur für das, was dabei herauskam: Stoffe, Kleider und Accessoires waren unbestreitbar schön und genügten auch höchsten Ansprüchen. Nicht einmal die Erbsenzähler bezweifelten, dass die edlen Produkte betuchte Konsumenten glücklich machen könnten. Nur sei die Trauer groß, wenn drei von fünf Größen oder vier von sieben Farben nicht lieferbar wären …
    Wir machten uns an vorbeugende Trauerarbeit. Dabei überraschte mich Aldo durch Selbstkritik, Einfallsreichtum und Hartnäckigkeit. Mit Elan erkletterte er die Balken der Diagramme. Tapfer hangelte er sich durch das Kurvengeflecht der Grafiken. Vieles war ungnädig gerechnet. Die Annahmen waren häufig pessimistischer als nötig. Das gab Aldo Auftrieb. Je mehr Reserven wir entdeckten, desto euphorischer wurde er. Schließlich sagte er triumphierend: »Ghana wird jedenfalls ein Geniestreich!«
    »Du warst doch noch nicht einmal dort.« Aber für Bedenken hatte er nun kein Gehör mehr: »Ich hatte ein ergiebiges Gespräch mit dem Handelsattaché!«
    Ich dachte mir meinen Teil. Er konnte nicht ernsthaft annehmen, dass Ghana das Wunderheilmittel für alles sei. Möglicherweise würde er dort Produktionskosten sparen können, aber sonst?
    »Ich pack es ganz anders an als mein Vater, das schwör ich dir. Mir wird es gelingen!«, schob er nach und erhob sich. »Wir wollen doch noch mal die Kugeln rollen lassen. Capisci , Henry?«
    Es wurde spät, bis ich loskam. Die Nacht war dunkel. Schwarz und tief hingen die Wolken über der Stadt. Ich nahm als Abkürzung den Schotterweg hinter den Lagerhallen der Bellinis. Kurz vor der Einmündung in die Teuscherstraße, die von der stillgelegten Aussegnungshalle zur Hauptstraße führt, stürzte aus den Büschen eine Gestalt durch den Lichtkegel meiner Scheinwerfer. Ich bremste scharf. Es war eine junge Frau. Mit ein paar Sprüngen erreichte sie meinen Wagen, riss die Beifahrertür auf und warf sich auf den Sitz. Lilith, ein keuchendes Bündel Mensch. Ächzend und hektisch tastete sie nach der Türverriegelung. Ich war nicht sicher, ob sie gemerkt hatte, dass ich der Fahrer war. Aber dann schrie sie: »Fahr schon los, Henry, fahr doch!«
    Ich rollte an, musste aber nach hundert Metern erneut halten. Hier an der Kreuzung erhellte die Straßenbeleuchtung das Wageninnere. Lilith hockte wie ein verschnürtes Päckchen neben mir, die Fersen auf den Sitz gezogen. Der geknautschte Rock, die entblößten Schenkel, das verwilderte und verschwitzte Haar – sie wirkte gleichermaßen ordinär und schutzbedürftig. Gerade wollte ich fragen, was passiert war, als sie sich aufbäumte: »Dieses Aas, dieses kranke Aas!« Es war mehr ein Schnappen nach Luft als ein Schrei. Ich würde wohl besser warten, bis sie sich etwas beruhigt hatte, dachte ich. Sie saugte die Luft panisch an, um sie mit einem zornigen Zischen auszustoßen. Manchmal riss es einen Stöhnlaut mit. Sonst war nichts. Sie rührte sich nicht. Blieb die kauernde Gestalt auf dem Nebensitz, die schwieg. Am Stadttor ging es nach links. Beim City-Kino war eine Bauabsperrung zu umzirkeln. Bei der Kunsthalle stand die Ampel auf Rot. Ich hielt an. Meine Hände am Lenkrad kamen mir

Weitere Kostenlose Bücher