Der Drache am Himmel
noch bei Barbara aussprechen. Dabei wollte ich nicht stören. Auch deswegen blieb ich noch eine Weile sitzen, streckte die Beine aus und überließ mich der Erschöpfung. Was für ein Tag! Aldo plante seine Ghana-Reise, Severin verarbeitete in den Bergen seine Enttäuschung und eine makabre Gestalt ängstigte die Stadt. Und ich hockte ergeben in der Garage, zu träge sogar, das Tor zufahren zu lassen. Ach, auch der Motor lief noch. Im Rückspiegel sah ich die beleuchtete Zufahrt – und darin eine verkleinerte Réa in Farben, die ich an ihr überhaupt nicht kannte: Sie trug ein kurzes gelbes Kleid mit orangefarbenem Schal. Eben schloss sie ihr Fahrrad auf.
»Ergib dich«, hörte ich sie rufen, »komm raus, Hände aufs Wagendach.« Schon wuchs sie im Spiegel an, entschwand daraus, die Beifahrertür ging auf und sie ließ sich auf den Sitz plumpsen.
»Gemütlich hast du’s hier. Ein bisschen eng vielleicht!« Der kleine Diamant an ihrem linken oberen Schneidezahn blitzte, als sie auflachte. Ihr Gesicht aber war alles andere als entspannt. Kein Wunder. Severin hatte sich fortgestohlen, war vielleicht sogar im Streit aufgebrochen. Bei Barbara hatte sie etwas Zuspruch gesucht. Und bestimmt gefunden.
»Keine Angst, ich fahr gleich. Ich spür doch, dass dir nicht nach Reden ist«, sagte Réa. Sie musterte mich groß- und braunäugig, blieb aber sitzen und zupfte ihren leuchtenden Schal zurecht.
»Na ja, ganz unrecht hast du nicht«, brummte ich und lächelte höflich, jedenfalls versuchte ich es. Innerlich verfluchte ich mich. Freundlichkeit, Zurückhaltung, Selbstlosigkeit! Wie selbstquälerisch muss einer sein, der sich eine solche Wesensart aufbürdet!
»Du bist mich gleich los. Es tut einfach nur gut, dich noch rasch zu sehen.« Réa umfasste meine Hand. »Mir wächst das im Moment alles etwas über den Kopf. Obwohl … es ist ja auch toll. Die Aktionswoche wird national, weißt du noch gar nicht. Eine ganz große Sache! Alle unterstützen die Idee. Mondo Unio in Hamburg. Die größte Gewerkschaft, die VeSaRe . Ich komm kaum noch dazu, an meiner Installation zu arbeiten, was aber nicht so schlimm ist. Maurice hat auch jede Menge Verständnis für seine Mutter. Aber der Tutsijunge tut mir so leid. Zweimal habe ich ihn schon versetzen müssen. Dabei braucht er mich doch. Und er ist wirklich ein Schatz. Aber so war ich immer schon, bürde mir wer weiß was alles auf. Tanze auf tausend Hochzeiten gleichzeitig. Und dann schlägt mir alles über dem Kopf zusammen, ich fange an zu schludern und hasse mich dafür. Aber jetzt muss ich wirklich los.«
»Réa, ich bewundere deine Energie. Du machst so viel Fabelhaftes.« (Das sagte ich betont herzlich. Meine Hand allerdings hatte ich ihr entzogen.)
»Ach, Henry, wenn hier jemand fabelhaft ist, dann du. Du kannst so gut zuhören und hast mir auch heute wieder mal sehr geholfen. Wenn ich dich nicht hätte!« Sie öffnete die Beifahrertür und machte Anstalten auszusteigen. Dann jedoch beugte sie sich noch mal ins Wageninnere, kam mir nahe und küsste mich: kurz nur, aber heftig und innig … »Du bist einfach ein feiner Mann«, raunte sie und sprang aus dem Wagen. Ich blieb sitzen. Der Rückspiegel zeigte, wie sie sich aufs Fahrrad schwang und in die Nacht hinausschoss. Ich drückte die Fernbedienung. Das Garagentor fuhr zu. Meine Zunge hatte sich verselbstständigt und tupfte unablässig meine Lippen ab.
Noch duftete es im Wagen fein nach Réa, als wolle ein Ton nicht verklingen. Ich hatte einen solchen Kuss nicht gewollt … Aber wer die Küsse nicht versteht, versteht den Menschen nicht. Woher hatte ich das? Wie viel Unsinn ein Gehirn so speichert!
Endlich stieg ich aus. Zog einige Runden durch den nächtlichen Garten, stolperte über den Sprinkler im Rasen. In unserem Schlafzimmer brannte Licht. Ich stellte mir vor, dass sich Barbara im Bett aufgesetzt hatte, den Arm um ihre Tochter geschlungen, die auf der Bettkante saß und vielleicht weinte … Lilith! Sie mit Maurice im Kanapee versunken auf der nächtlichen Veranda – wie mich die Innigkeit der beiden berührt hatte! Wieso eigentlich? Ich machte eine weitere Runde und lauschte ins Dunkel. Vielleicht erwartete ich eine Antwort. Aber in meinen Ohren war nichts als das Rauschen der Nacht. Ich hatte das Gefühl, dass die Stille immer dunkler wurde. Doch plötzlich löste sich aus der Schwärze und dem Rauschen ein Wispern. Ein Flüstern. Ich lauschte und vermeinte, meinen Namen zu hören. Unsinn! Es war wohl das
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