Der Drache am Himmel
plötzlich so grobschlächtig vor. Kurz dachte ich gehässig, dass meine Hilflosigkeit ganz Liliths Schuld war. Sie hatte bestimmt, dass wir uns nicht nahe sein sollten …
»Grün!«, sagte sie. »Du kannst fahren.« Sanfter konnte eine Stimme nicht klingen. Offenbar hatte sie sich ein wenig gefangen. Ich wollte sie gerade auffordern, endlich ihren Rock in Ordnung zu bringen, als sie die Beine streckte und den Stoff zu den Knien zog.
»Grüüün, grüüün!«, wiederholte sie im Singsang und für die Dauer eines winzigen Zeitsplitters hatte ich eine Eingebung. Aber ich konnte sie nicht greifen. Haften blieb nur die nervende Unschärfe einer Ahnung. Und doch war etwas Bedeutsames geschehen. Noch während ich anfuhr, durchwärmte mich die reine Zuneigung zu diesem jungen Menschen. Ich spürte es durch und durch. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich wohl gejauchzt. So aber gab ich mich stumm dieser unerklärlichen Aufwallung hin, wie dem köstlichen Erschaudern beim Eintauchen in einen heißen Jacuzzi. Es war irritierend und wundervoll. Als es abklang, fühlte ich mich beschämt, als hätte ich fahrlässig mein Innerstes preisgegeben. Aber ein kurzer Blick auf Lilith beruhigte mich. Damit beschäftigt, ihre Haare zurückzubinden, hatte sie mich nicht beachtet. Aber es war gut, dass es sie gab.
Endlich war es mir möglich, sie nach dem Vorfall zu fragen. Nachdem sie mich kurz gemustert hatte, begann sie in aller Ruhe zu berichten. Jedenfalls äußerlich schien sie sich wieder im Griff zu haben.
»Es gibt ihn wirklich, diesen Spinner. Das stimmt alles, was in den Zeitungen steht. Ich bin ihm über den Weg gelaufen. Der hat sie nicht alle, was für ein Aas!« Ich muss sie besorgt angeschaut haben, denn sie schob sogleich nach: »Nein, mir ist nichts passiert, nicht so, wie du denkst. Ich bin weggerannt. Aber es war trotzdem verdammt unangenehm.«
Sie war mit einer Freundin im Kino gewesen. Wollte mit dem Fahrrad nach Hause. Am Tag zuvor hatte sie es bei der alten Mühle gelassen, weil Maurice sie auf dem Motorrad mitgenommen hatte. Der Fußweg dorthin verläuft parallel zur Teuscherstraße. Niemand sonst war unterwegs. Plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand verfolge sie. Als sie sich umdrehte, sah sie die braun verhüllte Gestalt mit ihrer monströsen Maske. Der Maskierte wirkte verkrüppelt; stand ungefähr zwanzig Meter entfernt, beleuchtet von einer unerklärlichen Lichtquelle. Seine Aufmachung hatte etwas Lächerliches und war dennoch bedrohlich. Sie vernahm grunzende Geräusche, aber es war unklar, woher sie kamen. Die Gestalt schien reglos stehen zu bleiben. Auch Lilith war zunächst wie versteinert. Plötzlich merkte sie, dass sich die Gestalt auf sie zuschob, ohne dass eine Bewegung erkennbar gewesen wäre. Jedenfalls war sie auf einmal viel näher. Dann erst rannte sie los. Einmal noch sah sie sich um. Aber niemand war mehr da. Dieses jähe Verschwinden, sagte Lilith, sei besonders unheimlich gewesen. Und sie schloss: »Der soll sich nichts einbilden, damit kommt er nicht durch, dieses Arschloch!«
Es klang schon wieder schnoddrig nach jener Lilith, die ich kannte. Zunächst hatte ich ihr betroffen, dann mit zunehmender Rührung zugehört. Es war schließlich das erste Mal, dass sie mich ins Vertrauen zog. Doch dann war mein Blick auf ihre heftig ringenden Hände gefallen. Ihre wahren Gefühle verbarg sie also vor mir. Sie erfüllte nur ihre Pflicht, weil ich als »Retter« Anrecht auf ein Mindestmaß an Information hatte. Mehr war das nicht … Ich empfahl ihr, Anzeige zu erstatten. »Ich kann auch mitkommen, wenn du zur Polizei gehst.«
»Mal sehen. Ich überlege es mir.«
»Lilith! Dieser Kerl gehört eingesperrt.«
»Schon gut. Übrigens: nett von dir, dass du im richtigen Moment vorbeigekommen bist. Du kannst es also nicht gewesen sein.«
Raus mit ihr! Einen Moment lang war ich versucht, auf die Bremse zu treten und sie rauszuwerfen. Aber da sagte sie bereits: »Entschuldige. War nur ein Scherz.«
Zum … Teufel!, dachte ich und stockte dabei. Was konnte sie zu dieser bösartigen Erwägung verleitet haben? Was dachte sie von mir? Und als wen sah sie mich eigentlich? – Schweigsam erreichten wir das Haus. Sobald ich vor dem aufschwingenden Garagentor anhielt, stieg Lilith aus.
»Bis morgen, danke!«, sagte sie und verschwand Richtung Haustür. Ich fuhr in die Garage. Aus ihrer Verabschiedung war zu schließen, dass sie mir heute Abend aus dem Wege gehen würde. Vermutlich würde sie sich
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