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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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einer Inschrift weit oben und saß deshalb auf der Leiter, als es klopfte. Der Hitze unter der Decke wegen hatte sie ihre Bluse abgelegt, geblieben waren Jeans und ein knapper Büstenhalter. Da sie öfter so arbeitete, war sie sich ihrer Blöße gar nicht bewusst.
    »Herein!«, rief sie.
    Ein trat Henry. Eigentlich aber vollzog er sofort eine Kehrtwendung, die wie eine Pirouette wirkte, und rief, er habe etwas im Auto liegen lassen und komme gleich wieder. Offenbar wollte er ihr Zeit geben, sich etwas überzuziehen. Réa war gleichermaßen entzückt und verwirrt. Die tänzerische Beschwingtheit seines Rückzugs war schlichtweg zauberhaft. Dagegen kam ihr sein damit offenbartes Schamgefühl unheimlich vor. Konnte dieses bisschen Haut einen Mann wie Henry so verunsichern? Oder misstraute er etwa seiner – sie suchte nach dem passenden Wort – seiner Standhaftigkeit? Andererseits war er doch selbst gekommen und hatte niemanden geschickt, um ihr die Mikrofone zu bringen. Hieß das nicht, dass er ihren Kuss sozusagen angenommen hatte? Jedenfalls war er ihr nicht böse. Sie bemühte ihre Erinnerung: Wie hatten seine Lippen reagiert? Nachgiebig waren sie gewesen, das war unstreitig. Hatten sie nicht sogar ein wenig geantwortet – mit einem Zucken, einer kleinen Anspannung? Je länger sie darüber nachsann, desto bedeutsamer wurde dieser Kuss. Und während sie von der Leiter stieg, sich die Bluse überzog und den orangefarbenen Schal um den Nacken schlang, wurde ihr bewusst, dass sie Henry Lauterbach wollte mit Haut und Haar. Dieser Kuss war es, der ihre Kreativität wieder ins Fließen gebracht hatte. Dieser Mann konnte ihr ganzes Leben verändern. Sie begehrte ihn, das war es. Bei ihm fühlte sie sich angenommen und beflügelt. Laut ausgesprochen hätte es trotzig geklungen. »Pu, der Bär!«, flüsterte sie, ohne sich um den Sinn zu kümmern.
    Als Henry zurückkam und ihr unbeholfen die Mikrofone reichte, wirkte er unsicher.
    »Willst du hier singen?«, fragte er.
    »Singen und frohlocken.« Sie raffte den Schal vor ihrer Brust zusammen. »Mich hat es gepackt. Die Ideen fliegen mir nur so zu. Ich bin … ein Planet bin ich! Alles, was an Kometen so herumstreunt, zwinge ich in mein Kraftfeld!« Lachend winkelte sie die Arme an wie eine Bodybuilderin.
    »Die Wand da?« Er versuchte, mehr zu erkennen, und sie spürte, dass sie beiseitetreten müsste, aber da war er bereits um sie herum ins Atelier vorgedrungen. Vor der Mauer blieb er andächtig stehen und beschaute lange das weiße, weiße Nichts. Er sagte auch nichts. Er wird nichts erkennen, dachte Réa. Bei so wenig Licht sind die Unebenheiten kaum als Buchstaben auszumachen, geschweige denn als Sätze zu lesen. Aber es interessiert ihn! Meine Arbeit interessiert ihn. Steht einfach da und nimmt sich Zeit, etwas zu begreifen. Vermutlich denkt er, das Weiß sei erst die Grundierung. Vielleicht überlegt er sich, was ich mit dieser Leere ausdrücken will.
    »Ja, so ist es«, murmelte Henry. »Nicht alle sehen die Schrift an der Wand.«
    Dieser Mann verblüfft mich immer wieder. Das ist doch verrückt, dachte Réa und würgte erschreckt den Speichel hinunter, der sich in ihrer Mundhöhle angesammelt hatte. Man muss ihn einfach mögen. Ach, eigentlich ist er fast zu nett. Stille Wasser … Ich wüsste nur zu gern, wo er seine Fehler versteckt … Neulich im Fitnessraum der Bellini-Villa hatte Carla, auf dem Ergometer strampelnd, gekeucht, Henry sei einfach der liebenswerteste Mensch hierzulande. Réa verscheuchte das Bild, indem sie in die Hände klatschte, und Henry blickte sie fragend an. Wie ergreifend dieser Blick aus seinen ernsten dunkelbraunen Augen! Blond und dunkeläugig, das hatte Reiz. Entschiedenes Kinn, straffe Wangen, doch alles sanft gerundet. Auch so ein Reiz. Seine Kleidung, ohne jede Eitelkeit: Das Shirt im selben kräftigen Blau wie die Leinenhose, dazu ein kastanienbraunes Jackett, an dessen Aufschlag ein winziges goldenes Ahornblatt steckte. Ein wenig Kanada brauchst du wohl noch, dachte Réa. Sie ging langsam auf Henry zu, um ihm das Werk zu erläutern und auch, wofür sie die Tonaufnahmen brauche. Sie beschrieb das rote Puder und den Mechanismus an der Oberkante der Wand und dass sie noch nicht wisse – Henry unterbrach:
    »Vielleicht ginge es mit Kreidestaub. Den gibt es auch in Rot. Ich kenne da jemanden, der dich beraten könnte. Den Requisiteur, der für die Verfilmung unseres Walpurgisnachtbuches … da hat er irgendwie ein Gebläse gebastelt,

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