Der Drache am Himmel
Buchstaben zu Wörtern und diese zu Worten. Si vis amari, ama! Wahrheit ist immer obdachlos. Tat twam asi. Selbst wenn sich das Tageslicht am späten Nachmittag verflüchtigte, entging ihr keine Unregelmäßigkeit, fehlte kein Splitter an den Gipsbögen. Nie machte sie Licht. Ihr war der Katzenblick zugewachsen. Schleierhaft blieb ihr zwar noch der Transport des tonnenschweren Wandstückes nach Venedig, diesen Gedanken aber drängte sie einstweilen zurück. First things first , sagte sie sich. Immerhin steht ihr die Installation selbst jetzt klar vor Augen: Ein Mechanismus längs der oberen Mauerkante, an dem sie noch tüftelte, wird blutrotes Puder über die Wand rieseln lassen. Jäh und zufällig kommen die Schwaden. Das Pulver, das an den Gipslettern haften bleibt, wird die Inschriften sichtbar machen. Réa stellt sich ihre Wand in einem hohen, spärlich beleuchteten Raum vor. Und auch dieser Raum wird berieselt, von flüsternden Stimmen nämlich. Manchmal wird eine einzelne Stimme, manchmal werden viele gleichzeitig zu hören sein. Sie werden sich ineinander verweben und sich wieder auflösen. Es wird magisch und unheimlich zugleich wirken. Dafür hatte sie schon zwei Nächte gegeben. Drei hoch empfindliche Mikrofone fingen ihre improvisierten Rezitationen ein, die sie ins Dunkel raunte oder wisperte, während sie wie ein Geist durchs Atelier huschte – stundenlang, bis die Münsteruhr zwei oder drei Uhr schlug und sie sich auf ihr Klappbett fallen ließ. Severin war aus den Bergen zurück und drüben im Pfarrhaus. Bestimmt schlief er längst einen dumpfen Schlaf. Er trank in letzter Zeit viel, sprach dafür wenig. Immer weniger. Doch, sie hatte Mitleid mit ihm. Ihm war Unrecht widerfahren. Aber das minderte ihre begeisterte Stimmung nicht. Sie fühlte sich glücklich und stark. Der Austausch mit Maurice war wieder inniger geworden, auch wenn sie selten Zeit füreinander hatten. Euphorischer Stimmung waren sie beide: ihr Sohn seiner Liebe zu Lilith, sie der wiedergefundenen Gestaltungskraft wegen, die alle zermürbenden Selbstzweifel vertrieben hatte. Seit einigen Tagen werkte sie wie im Fieber. Derweil schwieg Severin und trank und ließ sich treiben. Voller Begeisterung hatte sie ihm von ihrem neuen Werk erzählt. Er war skeptisch. Der Mechanismus in der Wand würde nicht funktionieren, das Puder an den Konturen vorbeirieseln. Und ob sie nicht eigentlich ihre Arbeit für die Sans Papiers vernachlässige? Schon dreimal hätten sich irgendwelche Gewerkschafter der VeSaRe über einen ausgebliebenen Rückruf beklagt … Ausgerechnet Severin war um ihre Flüchtlinge besorgt!
Dabei hatte er natürlich recht. Für die Ghanaer fand sie im Moment tatsächlich viel zu wenig Zeit. Das bedrängte sie nicht, beschämte sie aber. Konnte es sein, dass ihre soziale Ader versiegt war, seit ihr Herzblut wieder für die Kunst floss? Sie vermied es, darüber nachzudenken. Viel wichtiger war jetzt die Eingabefrist für die Biennale in Venedig. Mit Schrift an der Wand hatte sie eine Chance, das spürte sie.
»Wie willst du dieses monströse Mauerstück eigentlich je nach Venedig bekommen?«, hatte Severin gefragt und seinen Nasenrücken gestreichelt. Was ihr früher als anrührende Geste vorgekommen war, nervte sie jetzt gehörig. Und warum war er so negativ? Ach, sie tat ihm unrecht. Trotz seiner Niedergeschlagenheit hatte er ihr gerade gestern die Spazierfahrt mit dem Tutsijungen abgenommen. Sie hatte ihnen nachgeschaut. Wie herzlich Severin mit Tensi umgegangen war! Jingle bell, jungle bell … Sie hörte noch das Lachen des Jungen über Severins improvisierten Rap: Jingle bell, jungle bell / walzen schnell / in der town / alles down …
»Test, Test«, hauchte sie in eines der Hochleistungsmikrofone, die Henry ihr aus dem Tonstudio besorgt hatte, in dem sein Verlag neuerdings esoterische Hörbücher produzierte.
Drei Tage nach jener Begegnung in der Garage hatte sie ihn abends spontan anrufen wollen, den Anruf aber auf den nächsten Tag verschoben. Am übernächsten schaffte sie es wirklich. Er war nicht da und sie hinterließ ihm eine Nachricht. Zwei Stunden später kam der Rückruf, zu ihrer Enttäuschung vom Geschäftsführer des Tonstudios. Herr Lauterbach habe einer Leihgabe zugestimmt, sagte er förmlich. Jemand würde das Bestellte um fünf vorbeibringen. Jemand! Das Bestellte! Réa empfand die Begriffe wie Hohn. Erstmals fragte sie sich, ob ihr Kuss Henry nicht vielleicht zu aufdringlich war …
Sie spachtelte an
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