Der Drache am Himmel
fassungsloser Trauer. Zwei weitere Gebinde waren in Herzform geflochten. Der Kranz der Création Bellini AG bestach durch seine Dimension und die Wucht eines Spruches von Kleist: Der Schmerz macht, dass wir Freude fühlen, so wie das Böse macht, dass wir das Gute erkennen. Wer mochte diesen Sinnspruch ausgewählt haben? Aldo war noch im Ausland. Und Carla traute ich ihn nicht zu. Hatte sie es der Werbeabteilung überlassen? Sowohl die Weisheit als auch die Masse des Kranzes waren ein Missgriff. Er erdrückte beinahe ein hübsches kleines Gebinde aus weißen Rosen, das unter ihm hing. Dessen weiße Banderole war ohne Text. Das wunderte mich, bis ich draufkam, dass vielleicht die Unterseite nach oben lag. Ich beugte mich vor und wendete sie:
OMNIA VINCIT AMOR.
Rosa, Lilith, Maurice
Diese drei! Warum? Wie kamen sie dazu, gemeinsam einen Kranz zu spenden? Maurice mit Lilith, das ja, aber zusammen mit Rosa? Und wieso hatten sie gerade diesen Sinnspruch gewählt? Die Liebe siegt über alles – einen irritierenden Moment lang empfand ich den schönen Gedanken sogar als Affront. Warum? Alles schien mir plötzlich voller Ungereimtheiten und unvermittelt fühlte ich mich beklommen, ganz eigentlich elend. Es war, als gehörte ich mir nicht mehr selbst. Ein mich befremdender Tag ging zu Ende. Einsichten hatte ich keine gewonnen, bloß den Durchblick verloren. Konsterniert stand ich hier an einem Grab, das mich nichts anging und von dessen Weisheiten ich mich irgendwie vorgeführt fühlte. Es wäre mir nicht verwunderlich vorgekommen, wenn die Jugendlichen im Gras diesen lächerlichen Mann, der ich war, schon aufs Korn genommen hätten. Ich wandte mich um. Nur die Gitarrenspielerin schaute vage in meine Richtung. Ich war seltsam erleichtert. Vielleicht rief ich deshalb spontan, ob jemand unter ihnen Latein könne. (Verständlich ist mir trotzdem nicht, warum ich so scheinheilig um Hilfe bat.)
»He, Mau«, sagte das Mädchen, ohne ihr Spiel einzustellen, »du kannst doch Latein.«
Ich konnte nicht feststellen, welcher der Jungen angesprochen war und Antwort gab, denn alle blieben auf dem Rücken liegen. »Warum wollen Sie das wissen?«, rief das Mädchen.
»Weil ich hier etwas nicht verstehe.«
»Mau? Der checkt was nicht.«
Wieder bekam das Mädchen von einem der Liegenden Antwort.
»Er will wissen, was Sie nicht verstehen«, rief sie herüber.
»Omnia vincit amor. Was heißt das?«, rief ich und erkannte die beiden, die aufsprangen, augenblicklich: Maurice und Lilith! Um sie herum schnellten auch die anderen auf die Beine, wie eine aufgeschreckte Herde. Aber nur Maurice und Lilith kamen auf mich zu. Mir war, als sähe ich sie wie neu erschaffen. Schlank und groß, erwachsen geworden; ein verwirrend glaubwürdiges Paar.
»Henry, Henry!« Lilith schüttelte den Kopf.
»Dass die Liebe stärker ist als alles andere«, sagte Maurice.
»Die Liebe siegt immer«, sagte Lilith.
»Schön!« Das kam von mir.
»Du findest das auch gut?«, fragte Maurice und grinste verlegen.
»Ich geh dann mal«, sagte Lilith und zog sich zur Gruppe zurück, während ich das Gefühl hatte, gleich erwachen zu müssen, so unwirklich war das alles. So standen wir nun zu zweit und beschauten verständnisinnig Schlaufe und Spruch.
»Ich habe dich gar nicht bemerkt«, sagte Maurice.
»Ich wollte nicht stören. Hast du diese Katja gut gekannt?«
»Ja«, sagte Maurice.
»Und warum auf Latein?« Ich wies auf die Schleife.
»Das hat Rosa vorgeschlagen. Und wir fanden es gut.«
»Was meintest du vorhin mit deiner Frage, ob ich den Spruch gut finde?«
Er schenkte dem Holzkreuz jede Menge Aufmerksamkeit. »Ist mir halt so eingefallen.«
»Ich bitte dich, Maurice! Natürlich gefällt mir der Gedanke.« Ich merkte, wie sehr mich die letzten Stunden aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Vieles war nebulös geworden. Meiner Wahrnehmung traute ich alles zu, nur keine Orientierung mehr. Noch eine weitere Unklarheit wollte ich mir nicht leisten.
»Komm schon, Maurice. Deine Skepsis hat einen Hintergrund. Vielleicht ist es ja nur ein Missverständnis.«
»Es geht mich überhaupt nichts an«, sagte er.
Ich wartete. Hörte ihn atmen. Dann begann er eigenartig detailbemüht auszubreiten, was ihn nichts anginge: Er hatte Tonaufnahmen von Réa auf seinen Computer überspielt. Ein Band schien fehlerhaft. Er ließ die Tonspur am Bildschirm durchfahren und entdeckte nirgends Ausschläge. Wollte die offenbar nicht belegte Spur schon löschen. Plötzlich
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