Der Drache am Himmel
während er eine übertrieben kitschige Seele hatte. Mit derartiger Selbstironie tröstete er sich manchmal.
Und Lilith? Von ihr empfing er widersprüchliche Signale. Wenn die Band nach Gigs noch durch die Nacht zog, war die Stimmung meist ausgelassen bis frivol. War Lilith dabei, saß Maurice wie auf Kohlen. Fröhlich sollte es ja sein, aber nicht primitiv. Er litt, wenn Anzüglichkeiten fielen, und ärgerte sich, dass er so empfindlich geworden war. Er mochte seine Kumpels, klar doch, aber mussten die eigentlich dauernd über Sex und chicks reden? Letztes Mal, zwei Tage vor Katjas Beerdigung, hatte ihr Frauenschwarm, Higi, der Drummer, ewig lang von Blaskonzerten schwadroniert, bei denen ihm die Töne weggeblieben seien. Maurice hatte schließlich auch gegrinst, aber erst nachdem er Lilith lachen gehört hatte – um sich plötzlich in ihrem forschenden Blick wiederzufinden. Sprach Enttäuschung daraus? Oder fand sie ihn verklemmt und unerfahren? Das war er ja nicht. Aber seine Erfahrungen kamen ihm jetzt ganz und gar überflüssig vor. Wie aus einer anderen Welt.
Gestern! Als er mit Lilith den Bandkeller betreten hatte, war Higi mit seiner derzeitigen Favoritin zugange; die eine Hand am Joint, die andere zwischen ihren Brüsten. Ihr Shirt verhüllte nicht mehr viel und Maurice fühlte sich beschämt wie noch nie. Lilith tat, als ob sie nichts daran fände. Das irritierte ihn. War Lilith oberflächlicher, als er sie in seinen Träumereien sah? Oder schloss sie von Higi auf ihn? Vielleicht nahm sie an, auch er spiele nur mit ihr. Natürlich träumte er davon, Liliths Nacktheit zu erkunden – zum ersten Mal aber kamen ihm Nähe und Intimität als etwas Verletzliches, fast Heiliges vor. Er wunderte sich über sich selbst, ahnte jedoch, dass Lilith ähnlich empfand. Vom Maskenfest an gerechnet hatte es zehneinhalb Wochen gedauert, bis sie sich zum ersten Mal geküsst hatten … Jetzt kannten sie endlose Zärtlichkeiten, aber eine verwirrende, wundervolle Scheu hielt sie davon ab, einen Schritt weiterzugehen. Dabei waren sie täglich beisammen. Ihre Gespräche Offenbarungen, wie Abenteuer. Lilith verführte ihn zu gewagten Gedankengängen, lockte ihn in neue Landschaften. Sie sprach über Lebensgefühle, die er bei sich nur geahnt hatte. Und es war berauschend, wenn sie beide in Empfindungen übereinstimmten. Manchmal fühlte er sich ihr so nahe, dass es beinahe schmerzte. Lilith gab ihm ein Buch zu lesen: Liebe ohne Leid . Von Symbiose und anderen Gefahren war darin die Rede und davon, dass wahre Liebe erst möglich würde, wenn sich die Verliebten ent-täuscht hätten. Das leuchtete Maurice zwar ein, aber er fand trotzdem, der Autor sehe das alles viel zu … nüchtern.
Außerhalb seiner Welt mit Lilith war ihm die Sprache aus anderen Gründen abhandengekommen. Er konnte nicht fassen, was vor sich ging. Manchmal schien es ihm, als habe jemand binnen weniger Monate alles irgendwie verrückt und verschachtelt.
Seine Mutter balzte mit diesem Shandar und hatte sich eine Wohnung am See genommen. Ihm hatte die fabelhafte Rosa jegliche Entscheidung erspart, indem sie verkündet hatte, Maurice bleibe bei ihr im Pfarrhaus (und natürlich bei Severin, aber der wurde gar nicht erst gefragt). Seit der Trauerfeier für Katja geisterte Severin sowieso nur noch wortkarg herum. Zudem waren diffuse Gerüchte im Umlauf. Zunächst hatten sie sich nur auf Aldo Bellini bezogen, der scheinbar in Ghana verschollen war. Aber seit gestern nun hieß es, auch Henry Lauterbach sei nach Ghana geflogen. Oder nach Marokko? Das war mysteriös genug. Rosa schien einiges zu wissen, schwieg aber. Einmal hatte sie etwas genuschelt wie »Aldo ist ganz schön in der Bredouille« und sie würde ihm, Maurice, mehr verraten, sobald sie Klarheit habe. Ihm war schon diese Bredouille nicht klar. Diese Alte! Die hatte doch die Klarheit! Sie war wunderbar. Er mochte sie sehr. Sie sagte, was sie dachte. War so ganz ohne Anstrengung unangepasst. Von Lilith abgesehen war Rosa der einzige Mensch, dem er vertraute. Deshalb glaubte er ihr auch, dass sie nicht wusste, worüber Carla gestern am späten Abend mit Severin gesprochen hatte. Ein seltsamer Besuch war das gewesen: Als er um elf abends heimkam, erschreckte ihn in der dunklen Halle eine wartende Carla. Ihr war es offensichtlich peinlich, ihm zu begegnen. Sie habe Severin erwartet, brachte sie umständlich vor. Der kam kurz darauf und beide verschwanden nach oben.
Und heute, vor einer Stunde erst, war es zu
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