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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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einer Wiederholung ihrer Begegnung gekommen. Doch diesmal war die Peinlichkeit ganz auf seiner Seite. Maurice pflegte nämlich, wenn er ausgehungert nach Hause kam, unter theatralischem Stöhnen den Eisschrank zu inspizieren: »Jaaaa! Aaah! Saaaalamiiii! Ooooh! Yooooghurt! Jaaaa, kommm in meinen Schluuuund! Uuuh!« Diesem Ritual der Vorfreude konnte er sich minutenlang hingeben. Also hatte er nicht mitbekommen, dass jemand das Haus betrat, bis jäh Carlas Kopf im Türspalt auftauchte. Carla sagte nur, Severin erwarte sie, und riss die Tür wieder zu. Er aber blieb blamiert und neugierig zurück: Warum suchte sie Severin schon wieder auf? Ging es um Aldo und Ghana? Suchte Carla den Rat des Pfarrers? Vielleicht wegen des anstehenden Prozesses, an dem sie als Schöffin beteiligt war? Nichts als Spekulationen gab es um den Maskierten, um Katjas Tod und darum, dass der Staatsanwalt das unerhörte Strafmaß von zehn Jahren für Totschlag fordere – brachte das Carla so auf?
    Maurice hatte in sein Käsebrot gebissen und gedacht, dass draußen alles aus den Fugen geraten sei. Glücklicherweise gab es Lilith, in vier Tagen waren Ferien und vielleicht hatte er eine bestimmte Chance. Rosa hatte sie ihm eingebrockt. Doch, das war das Wort dafür. Am Abend der Beerdigung hatte sie ihm mitgeteilt, sie verziehe sich für zehn Tage oder so in ihr Häuschen nach Südfrankreich. »Das ist genau der Abstand, den ich jetzt brauche. Willst du mitkommen? Selbstverständlich ist auch Lilith herzlich eingeladen. Euch zweien täte ein anderes Biotop vielleicht auch gut. Hier wird’s bald drunter und drüber gehen. Wenn es dir lieb und passend ist, fragst du sie einfach.«
    Einfach? Ha! Er hatte es bis heute Abend nicht geschafft und der Grund war nicht, dass es ihm nicht lieb und passend war …
    Als Maurice, auf der Treppe zu seinem Zimmer im zweiten Stock, aus Severins Raum Carlas Stimme vernahm, wäre er beinahe wieder ins Grübeln geraten. Was ging hier vor? Und worauf zielten eigentlich Rosas Anspielungen, ein kommendes Chaos betreffend? Aber nein! Jetzt ging es um Rosas Häuschen, ums Hexenhäuschen der guten Hexe Rosa , und darum, dass er Lilith unbedingt heute Abend einladen wollte. Wenn er es mündlich nicht schaffte, dann eben mit einer Collage aus Fotos, die Réa ihm geschenkt hatte. Vor Jahren waren sie beide einmal dort gewesen – ebenfalls nach einer Beerdigung, nach der pompösen Trauerfeier für Salvatore Bellini vor etwa acht Jahren.
    Ein Schnappschuss zeigte ihn sitzend auf dem Mäuerchen des Ziehbrunnens im Innenhof. Waden und Füße hingen über dem Schacht, der sicher zehn Meter tief reichte und immer noch von einer Quelle gespeist wurde. Gerade löste er mit gespieltem Stolz den Kessel von der Kette. Bild zwei und drei waren nur Landschaften, von der Terrasse aus aufgenommen. Er erinnerte sich, dass er versucht hatte, einen kreisenden Bussard ins Bild zu bekommen. Außer ein paar Wölkchen war aber nichts am Himmel. Das vierte Bild hatte er noch nie gesehen. Wieder war er selbst drauf, aber wie! Gespenstisch bleich. Gesicht und Haar voller Mehl. Nur weil er den lokalen Brauch der Fête votive nicht kannte. In seiner ganzen Naivität hatte er den Kopf aus dem Wagenfenster gestreckt, als ihm ein Einheimischer wohlgemut ein Zeichen machte … Auf dem Bild sah er zum Fürchten aus. Wer hatte ihn so erwischt? Réa? Rosa? Severin sicher nicht. Er und Réa waren damals noch kein Paar, aber wenn er sich richtig erinnerte, hatte seine Mutter Rosa als Choreografin kennengelernt und sie für eine ihrer Performances engagiert. Daher die Verbindung. Eigentlich war das Foto ganz witzig – Lilith aber fände ihn vielleicht lächerlich. Er überlegte. Sollte er als Erstes den Text verfassen? Vielleicht in Versform? Nach einer Stunde hatte er den halben Zeichenblock mit verkrampften Formulierungen und ornamentalen Umrandungen verbraucht; verbraucht, weil unbrauchbar. Zum Sujet seiner weißen Maskierung war ihm eingefallen: Ich weiß nicht, wie es sagen/zu weiß bin ich dafür/und möchte doch es wagen/zu reisen weit mit dir. Peinlich-dumm-schwach! Es war zum Verzweifeln. Er fühlte sich wie der arme Glühwurm, der kaum in der Lage war, sein Lämpchen zu entzünden. Andere brachten mit leichter Geste ganze Drachen zum Erglühen …
    Ach! Vielleicht wäre es doch einfacher, Lilith morgen direkt zu fragen. Er warf sich aufs Bett und suchte im Roman Unbewohntes Paradies die zuletzt gelesene Stelle. Den Geräuschen nach machte sich Carla

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