Der Drache am Himmel
Gedanken.
Erst als sie mitten auf dem ausgestorbenen Münsterplatz anhielt, kam sie wieder zu sich. Kein anderer Wagen stand da, weil der Platz seit je mit einem Parkverbot belegt war. Aber daran dachte sie in diesem Augenblick nicht. Vielmehr war sie überzeugt, böswillige Kräfte hätten sie absichtlich hierhin und ins Abseits geleitet … Bloßgestellt fühlte sie sich, am falschen Ort war sie. Wie fremd ihr der Platz vorkam! Zumindest brummte der Motor noch … das war irgendwie tröstlich. Doch wieder anzufahren schien ihr ein Ding der Unmöglichkeit. Wozu auch, wenn sie nicht wusste, wohin und zu wem? Zwar war sie jetzt nahe beim Pfarrhaus. Doch was sollte sie dort? Das gestrige Gespräch mit Severin hatte nichts gebracht. Sie hatte sich einfach nicht getraut, ihre Sache vorzubringen. Vielleicht hatte sie gehofft, es gelänge heute mit Réa. Das hatte sich nun auf seine Weise geklärt … Und was jetzt? Henry war ja nicht in der Stadt, sondern in Accra.
Um etwas gegen ihre Ratlosigkeit zu tun, stieß sie die Wagentür auf. Die Wirkung war verblüffend. Der offene Ausstieg wirkte wie eine Verheißung. Immer wieder würden sich Wege zeigen und seien es nur Fluchtwege. Zum Beispiel könnte sie diese peinliche tintenblaue Luxuskarosse einfach stehen lassen. Sie fühlte sich verzweifelt und von Aldo im Stich gelassen, aber sie war nicht eingesperrt. Nicht mundtot gemacht. Niemand konnte sie zwingen, Aldos Verirrungen mitzutragen. Warum hatte sie eigentlich nie mit einem Anwalt gesprochen? Wie sähe es finanziell aus? Zweifellos stand ihr der Kinder wegen das Wohnrecht in der Villa zu, oder nicht? Sie zuckte zusammen, weil ein doppelter Glockenschlag die volle Stunde anzeigte und die Münsterfassade jäh im Licht stand. Ein Paar unter dem Bogen des Eingangsportals blickte amüsiert zu ihr hin. Hatte sie ihre Fragen etwa laut gestellt? Oder hatte das Paar sie des Innenlichts wegen erkannt? Die durchgeknallte Frau Bellini. Im Luxusschlitten. Führt Selbstgespräche …
Türe zuschlagen, losfahren. Dem Paar im Portal konnte sie doch nichts vorwerfen! Sie selbst spionierte sogar nackte Liebespaare aus … Zum Lachen eigentlich, dass ein hopsendes Hinterteil so viel Wonne bereiten konnte.
Wie befreiend es war, zu fahren und zu beschleunigen oder abzubiegen, wann immer ihr danach war, und ihre Gedanken frei fließen zu lassen. Etwas Wahres war dran: Straffe Haut strafft auch das Selbstbewusstsein. Dichtes Haar ist attraktiv, schütteres nicht. Und die vollen Lippen ihres griechischen Fitnesstrainers versprachen bessere Küsse als Aldos schmale Verkniffenheit. Natürlich würde sie das nie überprüfen, darum ging es ihr nicht. Doch dass es Reife bedeutete, diesen Dingen weniger Bedeutung beizumessen, war eine Lüge. Eine unbesorgte Lebensführung war der armseligen überlegen. Wer das nicht zugab, heuchelte. Bescheiden leben, weil man sich bescheiden musste , war deprimierend. Armut im Alter? Nur bedrückend. Überhaupt wurde niemand wirklich reifer. Nur realistischer, weil sich die Illusionen verflüchtigten. Realistisch gesehen würde sie höchstens noch zehn Jahre als begehrenswerte Frau gelten. Ist das so wichtig? Ja, verflucht! Leider ist es mir immer noch wichtig. Doch manchmal bedaure ich es auch. Eigentlich bedaure ich es schon lange. Es macht mich unfrei. Es schadet mir. Schade um Energien, die ich dafür opfere. Ich könnte sie anderswo brauchen. Meine Kinder! Was ist, wenn Aldo wirklich abgestürzt ist? Wenn wir ins Chaos schlittern? Wo nehme ich dann die Kraft her? Die Kinder muss ich schützen!
Verblüfft stellte Carla fest, dass sie soeben an Henrys Haus vorbeigefahren war. Ob sie unbewusst … bei Onkel Henry ? Es machte keinen Sinn. Henry war bei Aldo in Ghana, da war sie sich sicher, auch wenn niemand Genaueres wusste. Schlimm genug, dass Aldo sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Diese nächtliche Irrfahrt brachte nichts. Ein Besuch bei Severin war halt doch ihre einzige Option, realistisch betrachtet.
Carla hielt an und tippte die Kurzwahl. Severin nahm ab. Er war freundlich und kam von sich aus darauf, dass sie gern nochmals vorbeikäme. So einfach ging das also.
Als sie die Halle des Pfarrhauses durchquerte, hörte sie ein Stöhnen: »Aaaah … kommm …« Es traf sie ins Innerste, weil es wie die Nachvertonung des stummen Bildes des kopulierenden Paares wirkte. Sofort war der oooh so straffe Hintern am Zustoßen und klappte aaah Réa die Schenkel weiter auf. Ohne sich gegen irgendetwas zu
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