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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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spürte, dass Henry nicht mehr da war. Einige Male wirkte er, als werde er von Fieberschüben geschüttelt. Und dann war sein Körper neben mir wie … wie leer. Ausgehöhlt. Keine Organe mehr drin. Kein Blut, keine Lunge, kein Herz.«
    »Nur noch eine Hülle, meinst du?«
    Lilith kicherte kaum hörbar und flüsterte: »Ja. Eine Hülle. Einfach kein richtiger Mensch mehr. Danke, dass du mich nicht auslachst. Ich weiß ja selbst, wie blöd das alles klingt.«
    »Mmh. Blöd nicht. Nur nicht ganz logisch.«
    Nicht viel logischer kam ihnen vor, dass sie ihren Wagen gleich in der ersten Quergasse zur Kathedrale wiederfanden. Sie konnten sich ihre Umwege nicht erklären. Das Auto stand vor einer Weinhandlung. Lilith fiel in der Auslage ein Pastis mit lila Etikett auf. Sie kauften ihn als Geschenk für Rosa.
    Bis Anduze regnete es wieder. Sie kamen langsam voran. Die Abzweigung zu Rosas Dorf verpassten sie, erreichten Murailles aber über Schotterwege und durch Eichenwäldchen gleichsam hintenherum. Es war fast sechs Uhr. Maurice’ Erinnerung leitete sie richtig durch die Gässchen, durch deren beidseitige Rinnen das Regenwasser schoss. Das verwitterte Holztor. Der Schlüssel passte. Der überwucherte Hof, nass glänzend und melancholisch. Maurice war gerührt, als er den Kessel über dem Ziehbrunnen sah – als warte er seit acht Jahren nur auf ihn. »Fühlt euch ganz frei«, hatte ihnen Rosa mitgegeben, »es hat zwei Gästezimmer im ersten, zwei im zweiten Stock.« Aber so frei fühlten sie sich nun doch nicht. Also deponierten sie ihr Gepäck in der Küche und arbeiteten Rosas Röllchen ab: Hauptschalter, Kühlschrank, Gashahn, holten im Hof Brennholz, brachten im Wohnraum den Kamin in Gang und scheuchten dabei einen Skorpion auf. Maurice wollte ihn zertreten, Lilith war für Gnade. Maurice fand ein Stück Karton und einen Becher, Lilith griff blitzschnell zu. Er staunte, sie lachte und expedierte den kleinen Schwarzen ins Freie. Auf ihrer Pirsch durchs Haus öffneten sie die Fensterläden und waren verzaubert ob der Stimmung aus Licht, Stoffen, Farben und Krimskrams. Hier war ein schwerer Samtvorhang mit leichter Geste vor ein Fenster drapiert, da schimmerten blaue Lavendelblüten in einer Tonschale, dort schwebte ein buntseidener Baldachin über einer Bettstatt. Weiß verputzt die Mauern, die Tonfliesen rot durchwärmt in vielen Jahrzehnten. Wenn Lilith vor Entzücken staunte, verspürte Maurice an Rosas Statt so etwas wie Besitzerstolz.
    »Schau mal!«, rief sie. »Dieser Ohrensessel voller Kissen. Hineinschmiegen, lesen, alles vergessen. Und dieses niedliche Holzkästchen da auf der Konsole. Ich hatte eben doch recht: Stiefgroßmütter haben es in sich!«
    Ein Taxi lud diese Stiefgroßmutter eine Stunde später vor dem Haus ab. Rosa fand die beiden am Feuer bei Brot, Paté und Selters vor; einen Wein zu öffnen hatten sie sich nicht getraut. Das holte Rosa nach, noch bevor sie Maurice und Lilith umarmte. Sie war von ansteckender Lebendigkeit, flitzte hierhin und dorthin, durchstöberte die Vorräte, schlug zum Abendessen Spaghetti, Tomatensoße und Maissalat aus der Büchse vor und gab (wie Maurice fand) ein hexisches Kichern von sich, als sie das Gepäck der beiden in der Küche entdeckte.
    »Also entscheide ich für euch. Ihr nehmt die Zimmer im Zweiten. Ich bin immer im Ersten neben der Terrasse. Dort tanze ich mich manchmal müde, wenn der Schlaf nicht kommen will. Seid also nicht irritiert, wenn ihr mein Platschen hört«, rief sie, entdeckte die Pastisflasche und fügte nahtlos hinzu: » Comme c’est drôle , dass ihr exactement diesen erwischt habt.«
    Was sie damit wohl meinte? Beide unterdrückten ihre Neugier – später vielleicht würden sie sich trauen nachzufragen.
    Als Lilith um zwei Uhr nachts auf diesen Pastis zurückkam, hatten sie gemeinsam gekocht und gegessen, hatten geredet über Liebe, Kunst und Lebensangst, über Gewissen und Psychologie und viel getrunken. Sie waren ehrlich gewesen, waren sich nahegekommen und die liebevolle Verschworenheit zwischen ihnen hatte noch zugenommen. Lilith fragte also. Rosa stutzte, blinzelte, sprang auf und hob ihr Glas: »Auf Salvatore! Auf meine Sünden!« Sie setzte sich wieder und schnaubte: » Mes jeunes! Wenn euch dieses Geständnis zu viel ist, können wir gern auch sofort gen Bettenhausen ziehen!«
    »Wer ist Salvatore?«, fragte Lilith.
    »Ach, vergesst es, das Liebesleben alter Frauen ist ja doch immer irgendwie peinlich«, grummelte Rosa.
    »Mir ist

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