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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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gehabt.«
    »Entschuldige, Maurice. Ich wollte mich nicht … Vielleicht kann ich mir das gar nicht vorstellen, so eine Sehnsucht nach dem Vater. Ich war fünfzehn, als er Barbara und mich verließ. Im Grunde bin ich ganz gut damit klargekommen. Besonders nah hat er mir schon lange nicht mehr gestanden.«
    »Hast du ihn denn überhaupt nicht vermisst?«
    »Kein bisschen.«
    »Und Trauer?«
    »Hab ich auch keine empfunden.«
    »Leere?«
    »Mmh, aber erst später. Zuerst war ich voller Rachsucht! Ich schmiedete blutrünstige Pläne. Ertrug es nur schwer, dass er meine Mutter so demütigen konnte und damit auch noch durchkam.«
    Remoulins 20 km wurde angezeigt und Maurice sagte:
    »Eigentlich glaube ich nicht, dass die Leere ganz leer ist. Manchmal, wenn ich mich ganz leer fühle, nehme ich mir die Zeit, irgendwie noch tiefer in mich hineinzuhorchen. Nur manchmal schaffe ich das, längst nicht immer. Es ist mühsam. Und dann komme ich mir irgendwie näher. Dort in der Leere ist etwas.«
    Lilith blickte ihn entzückt an: »Wow!«
    »Mach dich nicht lustig über mich.«
    »Nein! Nein! Ich habe so etwas nur noch nie von einem männlichen Wesen gehört. Auch du hast noch nie so mit mir gesprochen. Weißt du das eigentlich?«
    Verlegen flüchtete Maurice sich in Schlagfertigkeit: »Du kennst eben die Männer nicht!«
    »Ich kannte dich nicht«, sagte Lilith. Ihr linker Zeigefinger strich kosend über seine Wange.
    Remoulins 10 km . Lilith fragte: »Findest du Sex eigentlich wichtig?«
    »Ich glaub schon. Ja.«
    »Und warum hast du noch nie versucht, mit mir zu schlafen?«
    »Weil …«
    »Das ist nicht normal. Ihr versucht es immer. Ein bisschen Quatschen, ein bisschen Interesse zeigen, dann geht’s zur Sache.«
    »Stimmt genau.« Maurice nickte ausnehmend heftig.
    »Damit willst du nur meine Vorsicht wegnicken. Ganz raffiniert! Du gibst die Masche nur zu, damit ich denke, dass du ganz anders bist.«
    »Ich habe halt diese Sehnsucht …«
    »Nach Sex? Aha!«
    Maurice seufzte, weil ihm alles Mögliche gleichzeitig einfiel: der Satz auf der Schleife des Kranzes für Katja, seine Musik, eine frühere Affäre, Liliths Brüste …
    »Warte doch«, wiederholte er seinen Seufzer. Lilith blickte ihn an und wunderte sich über sein angestrengtes Gesicht. »Das, was ich da vorhin gesagt habe, nimm’s nicht so tragisch, bitte, Maurice!«
    »Weißt du … Wenn ich Musik mache, dann bin ich fast immer ehrlich zu mir. Dann kann ich nur ich selber sein. Und dann kann ich mich viel besser leiden. So möchte ich immer sein. So stelle ich mir … die Liebe vor. Als etwas ganz Ehrliches. Ich meine, früher hab ich das nicht so gesehen, aber jetzt …«
    Lilith blickte ihn zweifelnd und verwirrt, aber eigentlich tief berührt an. Als sie sich bei der Zahlstelle in eine der Warteschlangen einreihten, murmelte sie: »Ehrlich finde ich gut, weißt du.«
    In Pont Saint-Esprit überquerten sie die Rhône, kauften Früchte, Paté, Käse, Oliven und Brot und irrten eine halbe Stunde mit den Tüten durchs Städtchen, weil sie sich den Parkplatz nicht gemerkt hatten. Es regnete jetzt nicht mehr, aber die Luft schien aus Millionen schwebender Wassertröpfchen zu bestehen.
    »Links?«
    »Rechts oder geradeaus.«
    »Mir ist es ganz recht«, lachte Lilith.
    »Was denn?«
    »Dass wir uns verlaufen haben.«
    Unversehens befanden sie sich vor der Kathedrale. Einer der Eingangsflügel stand offen. Sie nahmen es als Einladung. Menschenleeres Halbdunkel, aber der Sog magischen Lichts vorn im Chor. Dort setzten sie sich, die weißen Tüten zu ihren Füßen.
    »Wie kann das sein? Das Ewige Licht, schau mal dort oben, es schwebt, und weit und breit ist keine Kette zu sehen oder irgendeine andere Befestigung«, flüsterte Lilith. Auch Maurice’ forschender Blick fand weder Kette noch Erklärung.
    »Aber es muss eine geben«, flüsterte er zurück.
    »Nicht unbedingt. Es ist nicht alles erklärbar«, wisperte Lilith.
    »Kann ja sein. Aber solche Dinge schon. Das ist eine kiloschwere Eisenlampe.«
    »Das besagt gar nichts, Maurice. Es gibt seltsame Sachen. Weißt du, was mir passiert ist? Im Trauergottesdienst für Katja hast du doch genau wie jetzt direkt neben mir gesessen. Und auf der anderen Seite von mir Henry. Manchmal schien mir, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll … manchmal hatte ich das Gefühl, er sei irgendwie weg. Lach bloß nicht.«
    »Was meinst du mit weg ? Geistesabwesend?«, raunte Maurice.
    »Eben nicht!«, flüsterte Lilith. »Ich

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