Der Drache am Himmel
erblickte ein seltsam grobkörniges Foto. Betrunken wie ich war, fiel es mir schwer, meinen Blick zu fokussieren. Er flitzte schmerzhaft zwischen zwei Halbwüchsigen vorn und Männern im Hintergrund hin und her. Die zwei vorne kauerten in einem Holzbottich, zwischen sich, ähnlich einem Kaminrohr, eine metallene Röhre. Bei der Männergruppe hinten stand Aldo, eindeutig Aldo. Und ja: Ich hatte diese etwa Zwölfjährigen bereits auf einem der Fotos in Akonnors Kanzlei gesehen. Kofi war in kleiner Schrift über dem Kopf des Jungen geschrieben, Abena stand über dem Mädchen. »Ko-fi und A-be-na.« Ich starrte auf die Kinder, die plötzlich einen Namen hatten, spürte ein übermächtiges Verlangen, mich einfach rücklings aufs Bett plumpsen zu lassen – und tat es. Das Moskitonetz spielte verrückt und verwirbelte mein Restchen Verstand zu einem Schleiertanz. Das empfand ich als Geschenk, denn auch alle Schrecken dieses Tages wurden von den wonnigen Wellen weggeschwemmt. Ich ließ los und überließ mich dem Taumel. Als Letztes vermeinte ich eine kleine Echse zu sehen, die über die Decke huschte.
Aldo wartete bereits im Taxi auf mich. Im Grunde fürchteten wir beide, dass etwas Unvorhergesehenes unseren Abflug gefährden könnte. Aber alles verlief geradezu erschreckend glatt. Als wir die Passkontrolle hinter uns hatten, murmelte Aldo, er werde mir alles erzählen. Ich nickte bloß.
Der Kapitän meldete das Erreichen der Reisehöhe und Regen in Frankfurt, als Aldos Hand an mein Knie zuckte, wobei es in seinen Augen misstrauisch irrlichterte.
»Henry! Es war dieser verfluchte Kerl! Seit gestern bin ich mir ganz sicher! Bereits beim Besuch in der Klitsche am Stadtrand hatte ich mich gequält draufzukommen! Ich wusste genau, dass ich das Gesicht schon einmal gesehen hatte. Du erinnerst dich doch an das Maskenfest und an das afrikanische Büfett der Sans Papiers. Der Kerl in der Werkstatt hatte so’n digitales Dings mit Klappe …«
Ich verstand kein Wort, sah Aldos abwehrende Hände aber als Bitte, ihn nicht zu unterbrechen.
Er berichtete aufgeregt und sprunghaft. Schließlich konnte ich mir die Sache zusammenreimen: An seinem zweiten Tag in Accra hatten seine Leute für ihn den Besuch verschiedener Produktionsstätten organisiert. Überall war er mit Applaus als Investor und Wohltäter empfangen worden. In einer Klitsche am Stadtrand war ihm ein junger Kerl aufgefallen, der sich stets etwas abseits hielt und vor dem Bauch eine Kamera hängen hatte. Ständig nestelte er an dem Apparat herum, konnte sich aber offenbar nicht dazu entschließen, eine Aufnahme zu machen. Aldo wollte ihm gerade mit einem Scherzwort etwas Mut machen, als er ins Grübeln geriet, ob er den jungen Mann nicht schon früher einmal gesehen habe – und seit gestern nun war ihm klar: Der Ghanaer hatte sehr wohl Aufnahmen gemacht. Der nach oben geklappte kleine Monitor hatte ihm erlaubt, diskret auf Bauchhöhe zu filmen. Und genau diesen Mann, diesen Filmer, hatte Aldo schon einmal gesehen: bei sich zu Hause anlässlich des bellinischen Maskenfestes. »Er war einer von Réas Sans Papiers . Und das soll Zufall sein?«, rief er voller Verwunderung.
Ich wunderte mich weniger. Erinnerte mich an Réas Stoffmuster, die sie von Shandar bekommen hatte. Und niemand anders als ich hatte sie ermutigt, damit zu Aldo zu gehen. So war er überhaupt auf die Idee gekommen, in Ghana produzieren zu lassen. Réa hatte ihn mit Shandar und den anderen Sans Papiers zusammengebracht. Nur durch sie war es ihm möglich geworden, die nötigen Kontakte in Afrika zu knüpfen. Erstaunlich war höchstens, dass sich einer der Ghanaer getraut hatte, wieder in sein Heimatland einzureisen.
Inzwischen war mir auch klar geworden, weshalb die entlarvenden Fotos Akonnors und des Richters so seltsam verwaschen gewirkt hatten. Es waren Fotos, sogenannte stills , aus dem Film. Ich sagte es ihm.
»Du hast die Fotos gesehen?«, wollte er wissen.
»Ja. Bei deinem Anwalt. Du weißt, was das heißt: Sie haben sogar ein filmisches Dokument in den Händen.«
Aldo ließ einen Schwall italienischer Flüche vom Stapel, die in »va’ all’inferno!« gipfelten. Sollen sie doch alle zur Hölle fahren! Schneller, als Filmdaten von Afrika nach Europa überspielt werden könnten, war ihm bewusst geworden, dass er immer noch erpressbar war. Den Ghanaern weiterhin ausgeliefert, selbst zu Hause. Und ich glaubte jetzt auch zu verstehen, was in Accra geschehen war.
»Dir haben sie die Fotos auch
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