Der Drache am Himmel
dachte ich, reiner Voodoo. Er aber wandte sich um, ging zu seinem Pult zurück, griff sich eine der Masken, kam damit zurück und drängte mich in den Besprechungsraum. Mit dem Absatz kickte er die Tür zu. Groteskerweise hing hier, was im Verhandlungsraum fehlte, ein funktionierender Deckenventilator. Das magische Summen seiner Flügel beherrschte den Raum wie eine Gottheit, so mein Eindruck. An einer Wand ein Bücherregal mit klaffenden Lücken in den Reihen, davor ein Tisch mit Stuhl. Gegenüber standen zwei Korbsessel, direkt vor dem geöffneten Fenster, das mit einem Fliegengitter bespannt war. Im schattigen Hof lehnte ein Fahrrad an einem Palmenstrunk. Keine Blätter dran, das Fahrrad ohne Sattel. So armselig das Bild auch war, so friedvoll wirkte es auf mich. Der Richter nahm in einem der Sessel Platz und lehnte die fast einen Meter hohe Maske seitlich an die Fensterbrüstung. Während er mich mit der Linken zum Sitzen einlud, zog er sich mit der Rechten die Perücke vom Kopf, um sie mit einem gezielten Wurf auf den Tisch zu pfeffern.
»Aber wirklich nur inoffiziell«, brummte er. Sein echtes Haar, weiße Krause, die seinen schwarzen Schädel umgab, wirkte wie ein aufgesetzter Kranz, beinahe künstlicher als die Richterperücke. Er fing meinen Blick ein und lächelte; seine Augen waren gütig und leidend. Und sie waren, was mich verstörte, wissend. Jäh fühlte ich mich ihm ausgeliefert. Ein Bekränzter ist er, schoss mir durch den Kopf. Gleich wird auf seiner Stirn das dritte Auge aufbrechen … Bin ich eigentlich noch bei Sinnen? Schließlich geschieht doch nichts!, meldete sich meine Vernunft. Nur der Ventilator sirrte unermüdlich. Die Stirn des Richters blieb unversehrt. Doch kaum hatte ich mich aus seinem Blick gelöst, als mich schon die Augenhöhlen der Maske in ihren Bann zogen: Dunkel und unbestechlich! Diese Augen wissen, wer ich bin. Durch diese Augen vermag mich der Richter zu erkennen … Welch ein Unsinn!, empörte sich wieder jene Stimme in mir, die noch um Wirklichkeit bemüht war. Vergebens. Unter diesem Sirren und vor diesen dunklen Augen war nichts mehr wirklich. Längst war zwischen dem Richter und mir ein Dialog im Gang, auch wenn er nur aus dem Widerhall unseres gemeinsamen Schweigens bestand. Wirklichkeit ist im Grunde immer nur Trug, dachte ich gerade, als ich ihn fragen hörte:
»Sie wissen, was mit diesen Kindern geschehen ist?«
»Ich habe Fotos gesehen.«
»Dann sind wir uns einig.«
Ich nickte.
»Weshalb sind Sie gekommen?«
»Aus Freundschaft.«
»Tatsächlich? Den Boten nehme ich Ihnen ab, die Freundschaft nicht.«
»Es muss einen Ausweg geben.«
»Für wen? Für mich? Oder für Sie, Bote! « Maliziös seine Betonung.
»Ich bedaure zutiefst, was geschehen ist.«
»Weiter!«, murmelte er.
»Ich schäme mich.«
»Können Sie doch gar nicht! Sie sind ja nicht verantwortlich! Oder glauben Sie etwa immer noch, dass ein Mensch die Verantwortung für einen anderen übernehmen kann?«
»Ich schäme mich vor diesen Kindern.«
Der Richter biss sich auf die Lippen, schüttelte empört den Kopf und rief: »Sie gottloser Bastard! Wir zwei müssen uns doch nichts vormachen. Aus Gründen, die wir beide nicht erläutern wollen, haben wir ein gewisses Vertrauen zueinander gefasst. Ich respektiere Ihre Rolle und Sie meine. Wie Sie damit zurechtkommen, ist Ihre Sache. Ich fürchte, Sie werden scheitern und das ist auch besser so. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, in diesem Moment aber stecke ich auch in meiner eigenen nicht gern. Ich nämlich habe diese Kinder verraten! Und warum? Weil ich nicht genügend Mut habe, dafür aber eine Familie, ein Auskommen und eine Stellung. Ich hatte die Wahl. Bin ja ein Mensch. Aber das verstehen Sie nicht. Dass wir wählen können, macht uns Menschen aus. Niemand schreibt uns vor, gut zu sein. Und niemand zwingt uns, böse zu sein. Wie einer seine Wahl erklärt, ist völlig uninteressant. Nur Moralisten kümmern sich darum, niemand sonst, nicht mal der liebe Gott oder der liebe Teufel! Mein Zorn vorhin im Saal galt nur mir selbst. Der Urwald und die Masken können mir nämlich gestohlen bleiben. Schauen wir sie uns doch an, diese Maske! Was halten Sie davon, hä? Seele eines Volkes, was? Gnade einem Volk, das keine schönere Seele hat.« Er betrachtete die Maske voller Abscheu. »Das schlechte Handwerk eines Dilettanten.«
Ich fühlte mich heillos überfordert. Unter einem Ventilator im Hinterzimmer eines Gerichts in Accra führten zwei
Weitere Kostenlose Bücher