Der Drache am Himmel
hast du ja gar nicht mitbekommen. Sie ist mit Maurice in die Ferien gefahren. Nach Südfrankreich. In Rosas viel gerühmtes Haus.«
Trotz dieser schlüssigen Erklärung geriet ich etwas aus dem Gleichgewicht. In letzter Zeit war ich rasch gekränkt, wenn ich mich übergangen fühlte. Doch da wenigstens der Hund mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte und eifrig an meiner Hand knabberte, konnte ich meinen Ärger relativ locker wegstecken … Als wir uns zum Essen unter die Pergola gesetzt hatten, war Barbara bereits dabei, mir zu erzählen, was sie tagsüber so alles erlebt hatte. Ich höre ihr gern zu. Ihr sprunghaftes Erzählen verleitet mich immer zu rätseln, welcher Assoziation sie gerade gefolgt ist. Ich komme selten drauf.
Carla Bellini hatte bei ihrem nachmittäglichen Besuch nicht nur den Hund vorbeigebracht, sondern auch eine Reihe offiziöser Nachrichten, die ich zunächst schlagzeilenartig vorgesetzt bekam: Schöffin Carla Bellini entlarvt den Exhibitionisten als tumben Narren. Sans-Papiers-Retterin Réa steht auf der Straße. Aldo dreht durch. Nach diesem Überblick gönnte sich Barbara einen Schluck Wein, als sei die Hauptarbeit getan. Doch wie ich sie kannte, würden nun die Meldungen im Einzelnen folgen. Und genauso war es auch:
Als Schöffin hatte Carla am ersten Prozesstag den Exhibitionisten erlebt: als psychisch angeschlagenen Mann, verschroben und geltungssüchtig. Er hatte sich gleichsam in der eigenen Bauernschläue verheddert, alles zugegeben und doch behauptet, von nichts zu wissen. Was Carla sehr verunsichert hatte. Loretans Bank hatte Réas Team die Räume, die sie für die Vorbereitung der Sans-Papiers-Aktionswoche zur Verfügung gestellt hatte, mit sofortiger Wirkung gekündigt. Zudem verweigerte der Bürgermeister Réa die Genehmigung, auf dem Münsterplatz ein Theaterzelt aufzustellen.
Aldo war seit seiner Rückkehr aus Ghana in undurchschaubare Hektik verfallen. Leute, die Carla nicht kannte, gingen bei ihnen ein und aus. Binnen einer Woche war er zweimal nach Italien geflogen. Ohne irgendjemandem zu verraten, warum und wohin genau.
Nach weiteren Meldungen aus dem Städtchen und nachdem sie einen Fruchtsalat aufgetischt hatte, erinnerte sich Barbara an Carlas Bitte: »Henry, sie will dich unbedingt treffen. So bald wie möglich, am besten morgen Abend.«
»Worum geht es denn?«
»Keine Ahnung, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass bei den Bellinis der Haussegen sehr schief … Ich wage mal eine Prognose: Carla probiert den Aufstand. Henry, was sagst du dazu? Ich gehe doch manchmal in diesen Shop, diesen Second Hand First Shoe . Die verkaufen ja in erster Linie getragene Schuhe. Da sagt mir letzte Woche die Verkäuferin, eben habe Frau Bellini über hundert Paar Schuhe eingeliefert! Was bin ich doch mit meinem Dutzend für ein bescheidenes Geschöpf!«
»Jetzt hast du bestimmt schon dreizehn Paare?«, neckte ich sie.
»Wieso?«
»Du hast dir sicher Carla Bellinis Lieferung etwas genauer angeschaut?«
»Das habe ich.« Barbara lachte. »Angeschaut ja. Beindruckend! Die Carla hat Geschmack. Aber vielleicht noch viel mehr – Mut!«
Barbara und ich gerieten in eine heitere Plauderei, hatten viel zu lachen und landeten frühzeitig im Bett. Che-Che war einfühlsam genug, sich diskret zu verziehen. Wir schliefen in einer reizvoll trägen, sehr sanften Weise miteinander. Das Beben ihres Körpers nach dem Höhepunkt schien sich unendlich lange hinzuziehen. Mit einem gewissen Befremden nahm ich die wiederkehrenden Schauer wahr, die ihre Brüste erzittern ließen. Mein Orgasmus war kurz und korrekt und wieder einmal staunte ich, dass dieser Sache so große Bedeutung beigemessen wurde. Es war nett, aber zu flüchtig, um dem Anspruch auf Erfüllung zu genügen. Vielleicht erging es mir wie dem Unmusikalischen im Konzert. Während alle anderen von den Klängen bezaubert sind, wundert er sich bestenfalls, welch hohe Töne die Geigerin ihrem Instrument zu entlocken vermag. Wahrscheinlich fühlt er sich ebenso unbehaglich, wie ich mich jetzt fühlte, weil ich die Liebeslust nicht wirklich verstand. Wenn ich aber Lust und Freuden nicht begriffe, das ahnte ich, verstünde ich auch die Qual und das Leiden nicht. Somit würde ich das widersprüchliche Wesen namens Mensch vielleicht nie wirklich erfassen können. Für einen Forschenden war das eher von Nachteil …
»Ich liebe dich«, flüsterte Barbara vor dem Einschlafen.
Vielleicht verstehe ich auch das nicht, dachte ich, als ich
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