Der Drache aus dem blauen Ei
der Mauer hangelte sich ein sehr dicker, vollgefressener Drache am Seidenschal hoch zum Fenster. Noch hatte niemand außer Anja ihn entdeckt. Verstohlen stieß sie Alexander an. Er folgte ihrem Blick und verstand sofort. Jetzt kam es nur auf eines an: Sie mussten die Nachbarn ablenken.
„Äh, das waren bestimmt die Maulwürfe“, sagte Anja.
Wie sie gehofft hatte, starrten sie jetzt alle an. Niemand kam auf die Idee, zum Haus zu schauen. So bemerkte auch keiner, wie Alexander sich auf leisen Sohlen davonstahl.
„Maulwürfe?“, fragte Frau Heck-Schaube ungläubig. „Maulwürfe fressen Tulpen?“
„Nun, manche schon“, erklärte Anja. „Aber sie sind sehr selten.“
„Humbug!“ Frau Heck-Schaube baute sich mit verschränkten Armen vor Anja auf. „Maulwürfe fressen Wurzeln.“
„Dieser hier nicht.“ Anja spann unbeirrt ihre Geschichte weiter. „Ganz offensichtlich ist es ein … ein Sultansmaulwurf. Sie leben normalerweise nur in der Türkei, in den Gärten von alten Palästen. Die Gärtner züchten sie extra. Sie fressen nämlich am liebsten Unkraut. Löwenzahnblüten zum Beispiel. Aber in Ihrem Garten gibt es kein Unkraut. Da musste der arme Kerl eben Tulpen fressen.“
Frau Heck-Schaube glotzte Anja mit offenem Mund an. Über die Schulter der Nachbarin hinweg konnte Anja sehen, wie Alexander die Hauswand erreichte, hochsprang und Lavundel herunterpflückte. Der Drache strampelte. Aber bevor er noch einen Kieks von sich geben konnte, hatte Alexander ihn schon unter den Pullover gestopft und hechtete mit ihm ins Haus. Anja atmete auf.
„Sie sehen doch, dass auch unsere Blumen weg sind“, mischte sich nun Papa ein.
„Oh ja“, sagte Mama traurig. „Meine schönen Tulpen.“
Frau Heck-Schaube schnaubte noch einmal und zuckte dann mit den Schultern.
„Helmut“, sagte sie zu ihrem Mann, „du fängst diesen miesen Maulwurf. Noch heute!“ Sie beugte sich zu Anja hinunter. „Und wehe, wir finden keinen, junge Dame.“
„Sie müssen nur schnell sein“, antwortete Anja. „Sie … sie sind nämlich ziemlich flink.“
„Was ist denn das?“, fragte Herr Heck und deutete auf den Seidenschal, der aus dem Fenster baumelte.
„Der hängt dort zum Trocknen“, erklärte Anja hastig.
Frau Heck-Schaube kniff lauernd die Augen zusammen. „In letzter Zeit gehen bei Ihnen seltsame Dinge vor“, sagte sie zu Mama. „Glauben Sie ja nicht, dass uns das nicht auffällt! Vorgestern habe ich aus dem Fenster geschaut und was sehe ich? Ihre Kinder, mitten in der Nacht, mit einem Picknickkorb!“
„Ja, wir lieben ein gutes Mitternachtspicknick“, sagte Papa mit seinem freundlichsten Lächeln. „Aber jetzt müssen wir zur Arbeit und die Kinder in die Schule.“
„Viel Spaß bei der Maulwurfjagd“, murmelte Mama und stapfte in Hausschuhen über das taufeuchte Gras zum Haus zurück.
Tulpensalat
„Das war ja eine tolle Geschichte, die du dir ausgedacht hast“, sagte Papa und klopfte Anja auf die Schulter. „Was würden wir nur ohne unsere Märchenerzählerin machen?“
„Türkischer Sultansmaulwurf. Krass!“ Alexander lachte sich halb schlapp und auch Bo kicherte. Nur Mama sah gar nicht begeistert aus. Sie betrachtete Lavundel. Er lag auf dem Sofa und hielt sich den runden Bauch. Als er rülpste, segelte ein kleines rotes Tulpenblatt aus seinem Maul. Aber satt war er offenbar noch immer nicht. „Hunger“, piepste er und deutete auf seinen Bauch.
Anja traute sich nicht, etwas zu sagen. Sicher war Mama sauer auf sie, weil sie das Fenster nachts nicht zugemacht hatte. Aber zu ihrer Überraschung baute sich Mama direkt vor dem Sofa auf. Sie holte tief Luft und dann schimpfte sie Lavundel aus! Und zwar so gründlich, dass er noch kleiner wurde. Seine Augen wurden riesengroß. Alexander, Anja und Bo hielten die Luft an. Hui, war das ein Donnerwetter! „Und wenn du noch ein einziges Mal wegläufst“, sagte Mama schließlich streng und hob den Zeigefinger, „dann bekommst du Hausarrest bis zu den Sommerferien. Das meine ich ernst, mein Freund! Kein Mitternachtsfußball mehr und kein Fernsehen. Haben wir zwei uns verstanden?“
Lavundel schluckte und nickte. „’tschuldugung“, sagte er ganz kleinlaut.
Mama schnaubte und ging in die Küche. Anja hätte schwören können, dass sie dabei leise „Irrenhaus“ murmelte.
Papa folgte ihr in die Küche und natürlich schlichen alle Lukas-Kinder ihm auf Zehenspitzen hinterher. Neben der Küchentür pressten sie sich mit dem Rücken an die Wand
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