Der Drachenbeinthron
spürte Simon eine ganz zarte Berührung auf seinem Haar. Der Prinz strich ihm sanft über den Kopf.
»Wirklich! Wirklich!« , hauchte Josua. Simon fühlte, wie ihm etwas Warmes in den Nacken rann.
»Gefunden!«, kam Morgenes’ unterdrückter, aber triumphierender Ausruf. »Kommt her!« Simon erhob sich leicht schwankend und trug den Prinzen ein paar Schritte weiter. Der Doktor stand an der kahlen Steinwand und deutete auf eine Pyramide aus großen Fässern. Der Lampenkristall verlieh ihm den Schatten eines turmhohen Riesen.
» Was gefunden?« Simon rückte den Prinzen zurecht und starrte um sich. »Fässer?«
»Allerdings«, kicherte der Doktor. Mit schwungvoller Gebärde gab er der runden Außenseite des obersten Fasses einen Stoß, die daraufhin sogleich aufschwang wie eine Tür und das Dunkel einer Höhle enthüllte.
Misstrauisch schaute Simon in die Finsternis. »Was ist das?«
»Ein Gang, du törichter Knabe.« Morgenes nahm ihn am Ellenbogen und führte ihn auf das Fass mit der offenen Seitenwand zu, das kaum die Höhe von Simons Brustkorb erreichte. »Die Burg ist voll von solchen geheimen Pfaden.«
Stirnrunzelnd bückte sich Simon und spähte in die schwarzen Tiefen. »Dort hinein?«
Morgenes nickte. Josuas Retter begriff, dass er nicht aufrecht durch die Öffnung kam, und ließ sich auf die Knie nieder, um ins Innere zu kriechen, auf dem Rücken den Prinzen, der ihn ritt wie ein Festtagspony.
»Ich wusste gar nicht, dass es in den Lagerräumen solche Gänge gibt«, meinte Simon, und seine Stimme erzeugte ein Echo im Fass. Morgenes beugte sich vor, um Josuas Kopf unter dem niedrigen Eingang durchzuschieben.
»Junge, es gibt mehr Dinge, die du nicht weißt, als Dinge, die ich weiß . Und dieses Ungleichgewicht bringt mich noch zur Verzweiflung. Jetzt halt den Mund, wir haben es eilig.«
Auf der anderen Seite konnte man wieder stehen. Morgenes’ Kristall zeigte ihnen einen langen, gewundenen Gang ohne weitere Besonderheiten, abgesehen von den geradezu märchenhaften Ablagerungen von Staub.
»Ach, Simon«, bemerkte Morgenes, während sie sich hastig fortbewegten, »ich wünschte nur, ich hätte die Zeit, dir ein paar von denRäumen zu zeigen, an denen dieser Gang vorbeiführt … einige davon wurden einst von einer sehr hohen, sehr schönen Dame bewohnt. Sie benutzte diesen Gang für ihre geheimen Stelldicheins.« Der Doktor sah zu Josua auf, dessen Gesicht an Simons Hals lag. »Jetzt schläft er«, murmelte Morgenes. »Alles schläft.«
Der Gang stieg an und senkte sich wieder, wand sich in die eine und die andere Richtung. Sie kamen an vielen Türen vorbei; an manchen waren die Schlösser eingerostet, andere hatten Klinken, die glänzten wie ein neues Fithingstück. Einmal passierten sie eine Reihe schmaler Fenster; bei einem kurzen Blick hinaus sah Simon verblüfft die Posten auf der Westmauer, deren Umrisse sich gegen den Himmel abzeichneten. Dort, wo die Sonne untergegangen war, hatten die Wolken eine zartrosa Tönung angenommen.
Wir müssen über dem Speisesaal sein, dachte Simon verwundert. Wann haben wir nur die ganze Kletterei hinter uns gebracht?
Sie stolperten vor Erschöpfung, als Morgenes endlich haltmachte. In diesem Teil des gewundenen Ganges gab es keine Fenster, nur Wandbehänge. Einen davon hob der Doktor hoch; nichts als grauer Stein wurde sichtbar.
»Das war der falsche«, keuchte Morgenes und lupfte den nächsten, hinter dem sich eine Tür aus grobem Holz zeigte. Er legte das Ohr daran, lauschte einen Augenblick und zog die Tür auf.
»Staatsarchiv.« Er wies auf den von Fackeln beleuchteten, breiten Korridor gegenüber. »Nur ein paar … Hundert Schritte von meiner Wohnung.« Sobald Simon mit seiner königlichen Last hinausgetreten war, ließ er die Tür zurückschwingen; mit einem gebieterischen Krachen fiel sie ins Schloss. Als er sich umsah, konnte Simon sie vom Rest der Täfelung, die die Wände des Ganges bedeckten, nicht mehr unterscheiden.
Nur einmal noch mussten sie eine ungeschützte Stelle überqueren, als sie von der Osttür der Archivräume quer über den offenen Anger hasteten. Während sie über das düstere Gras schwankten, wobei sie sich so dicht wie möglich an der Mauer hielten, ohne sich im Efeu zu verfangen, kam es Simon vor, als sähe er im Schatten der Mauer auf der anderen Seite des Hofes eine Bewegung; etwas Großes, das unmerklich seine Stellung änderte, als wollte es beobachten,wohin sie gingen; eine allzu gut bekannte Gestalt mit gebeugten
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