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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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merkte er, dass er ein Blatt vergessen hatte; es lag ein wenig abseits, und als er es aufhob, sah er, dass es von seinem eigenen Schweiß verschmiert war. In den verwischten, unlesbar gewordenen Buchstaben war ein Satz unversehrt geblieben. Simon sprangen die Worte entgegen:
    »… Wenn ihn überhaupt ein göttlicher Funke berührt hatte, so zeigte sich das am deutlichsten in seinem Kommen und Gehen, nämlich daran, dass er zur besten Stunde am rechten Platz war und daraus seinen Vorteil zog …«
    Es war nicht gerade eine Vorhersage oder Prophezeiung, aber es ermutigte Simon ein wenig und bestärkte ihn in seinem Entschluss. Nach Norden wollte er gehen – nordwärts nach Naglimund.
    Für einen schmerzhaften, unseligen Tagesmarsch neben der Alten Forststraße entschädigte ihn zum Teil eine glückliche Entdeckung.Als er so durch das stachlige Unterholz stelzte – gelegentliche Katen, die sich in Rufweite der Straße befanden, umging er –, erhaschte Simon durch eine Lücke zwischen den Bäumen einen Blick auf einen unermesslichen Schatz: unbeaufsichtigte Wäsche.
    Das Auge fest auf die schäbige, mit Brombeergestrüpp gedeckte Hütte geheftet, die ein paar Schritte daneben stand, schlich er auf den Baum zu, dessen Äste mit feuchten Kleidern und einer stinkigen, triefend nassen Decke behängt waren. Sein Herz schlug hastig, als er einen wollenen Mantel herunterzog, der vor Feuchtigkeit so schwer war, dass Simon taumelte, als er ihm in die Arme glitt. Aus der Kate kam kein Alarm; tatsächlich sah es so aus, als sei überhaupt niemand auch nur in der Nähe. Ohne dass er einen Grund dafür wusste, fühlte er sich deshalb wegen seines Diebstahls noch ein wenig schlechter. Als er mit seiner Last in das Gewirr der Bäume zurückrannte, sah er vor seinem geistigen Auge wieder ein rohes Holzschild, das gegen eine Brust schlug, die nicht mehr atmete.

    Die Sache war die, das merkte Simon schon sehr bald, dass das Leben eines Gesetzlosen ganz und gar nicht so aussah wie in den Geschichten von Hans Mundwald dem Räuber, die Shem ihm erzählt hatte. In seiner Fantasie war der Wald von Aldheorte eine Art endloser, hoher Saal mit einem Fußboden aus weichem Rasen und in die Höhe ragenden Säulen aus Baumstämmen gewesen, auf denen eine ferne Decke aus Blättern und blauem Himmel ruhte – ein luftiges Zelt, in dem Ritter wie Herr Tallistro von Perdruin oder der gewaltige Camaris auf stolzen Schlachtrossen einherritten und verzauberte Damen von einem entsetzlichen Schicksal erlösten. In der unnachsichtigen, geradezu bösartigen Wirklichkeit gestrandet, musste Simon feststellen, dass die Bäume am Waldrand sich eng aneinanderdrängten und ihre Äste ineinander verstrickt waren. Schon das Unterholz war ein Hindernis, ein grenzenloses, höckriges Feld aus dornigen Ranken und umgestürzten Stämmen, die fast unsichtbar unter Moos und faulenden Blättern lagen.
    Wenn er sich in diesen ersten Tagen ab und zu auf einer Lichtungwiederfand und ein kurzes Stück ungehindert weitergehen konnte, gab ihm das dumpfe Geräusch der eigenen Schritte das Gefühl, nackt zu sein. Er ertappte sich dabei, wie er im schrägen Sonnenlicht eilig über die Senken huschte und sich nach der Sicherheit des Unterholzes sehnte. Dieses Versagen seiner Nerven machte ihn so wütend, dass er sich zwang, die Lichtungen langsam zu überqueren. Manchmal sang er sogar tapfere Lieder und lauschte dem Echo, als sei der Ton seiner Stimme, die immer leiser wurde und schließlich in den alles dämpfenden Bäumen erstarb, das Natürlichste auf der Welt; aber kaum, dass er wieder im Unterholz angelangt war, hatte er zumeist vergessen, was er kurz zuvor gesungen hatte.
    Obwohl sein Kopf noch voller Erinnerungen an sein Leben auf dem Hochhorst steckte, waren sie zu bloßen Gedächtnisfetzen verkommen, die immer entfernter und unwirklicher schienen und durch einen wachsenden Nebel aus Zorn, Verbitterung und Verzweiflung ersetzt wurden. Heimat und Glück hatte man ihm gestohlen. Das Leben auf dem Hochhorst war etwas Großartiges und Behagliches gewesen: die Menschen freundlich, die Unterbringung wunderbar bequem. Jetzt trampelte er Stunde um müde Stunde durch den verfilzten Wald und schwamm in Kummer und Selbstmitleid. Er fühlte, wie sich seine frühere Persönlichkeit langsam auflöste und ein immer größerer Teil seiner wachen Gedanken sich nur noch um zwei Dinge drehte: essen und weitergehen.
    Zuerst hatte er lange überlegt, ob er der Schnelligkeit wegen die offene

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