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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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und Zimt roch …
    Eine Woche und einen Tag nach den Ereignissen im »Drachen und Fischer« passierte er in Rufweite das Dorf Sistan, eine Siedlung kaum größer als Flett. Die Zwillingskamine aus Lehm auf dem Dach des Gasthauses rauchten, aber die Straße war leer, und die Sonne schien hell. Aus einer Gruppe Silberbirken spähte Simon von einer Anhöhe hinunter, und die Erinnerung an sein letztes warmes Essen versetzte ihm einen fast körperlichen Schmerz, sodass seine Knie schwach wurden und er um ein Haar gestürzt wäre. Jener längst verschollene Abend schien trotz seines unerfreulichen Abschlusses Morgenes’ Beschreibung vom heidnischen Paradies der alten Rimmersgarder zu gleichen: ewiges Trinken und Geschichtenerzählen, fröhliches Feiern ohne Ende.
    Er schlich den Hügel hinunter und auf das stille Gasthaus zu. Seine Hände zitterten, und er schmiedete wilde Pläne, wie er von einem unbewachten Fenstersims eine Fleischpastete stehlen oder durch eine Hintertür schlüpfen und die Küche plündern würde. Schon hatte er die Bäume hinter sich gelassen und war den halben Abhang hinuntergestiegen, als ihm jäh zu Bewusstsein kam, was er da tat: am schattenlosen Vormittag aus dem Wald herauszukommen wie ein krankes, fieberndes Tier, das den Selbsterhaltungstrieb verloren hat. Trotz seines dornenbesetzten Wollmantels fühlte er sich plötzlich nackt. Wie angewurzelt blieb er stehen, machte kehrt und rannte davon, den Abhang wieder hinauf und zurück zu den schlanken Birken. Jetzt schienen selbst sie ihm zu wenig Schutz zu bieten; fluchend und schluchzend hastete er tiefer ins Dickicht des Alten Herzens und verschwand in den Schatten wie in einem übergroßen Mantel.
    Fünf Tage westlich von Sistan fand sich der schmutzstarrende, halbverhungerte Junge auf einem anderen Hang wieder, von dem er auf eine aus rohen Spaltholzbrettern gebaute Hütte schaute, die in einem engen Waldtal lag. Er wusste genau – jedenfalls so genau, wie es bei seinen so erbärmlich zerfetzten Gedanken überhaupt möglich war –, dass ein weiterer Tag ohne richtiges Essen oder noch eine einsame Nacht in dem kalten, gleichgültigen Wald ihn tatsächlich und endgültig in den Wahnsinn treiben und ganz und gar zu dem Tier machen würden, als das er sich mehr und mehr fühlte. Seine Gedanken waren bereits dabei, abstoßend und viehisch zu werden: Fressen, dunkle Verstecke, müdes Durch-den-Wald-Stapfen, das war alles, was ihn noch interessierte. Immer schwerer fiel es ihm, sich an die Burg zu erinnern – war es dort warm gewesen? Hatte jemand mit ihm gesprochen? Als sich gestern ein Ast durch sein Wams gebohrt und ihm die Haut aufgerissen hatte, war er nur noch imstande gewesen, zu knurren und danach zu schlagen – ein Tier!
    Jemand … jemand wohnt hier …
    Die Holzhauerhütte hatte einen mit säuberlichen Steinen eingefassten Weg zur Vordertür. Unter dem Dachvorsprung an der Seitenwand lagerte ein Stapel gespaltener Holzscheite. Bestimmt, überlegte Simon, leise schnüffelnd, bestimmt würde man sich seinererbarmen, wenn er an die Tür ginge und ganz ruhig um etwas zu essen bäte.
    Ich bin so hungrig. Es ist nicht fair! Es ist ungerecht! Jemand muss mir zu essen geben … jemand …
    Langsam, auf steifen Beinen, stieg er den Hügel hinunter. Sein Mund öffnete und schloss sich. Eine fast versiegte Erinnerung an zwischenmenschliche Beziehungen warnte ihn, dass er dieses Landvolk, diese misstrauischen Waldleute in ihrer von Bäumen umringten Kuhle nicht erschrecken durfte. Er hielt beim Gehen die leeren Handflächen ausgestreckt vor sich und spreizte die bleichen Finger als wortloses Zeichen seiner Harmlosigkeit.
    Die Kate war entweder leer, oder die Bewohner reagierten einfach nicht, als er mit seinen zerschundenen Knöcheln anpochte. Er ging um das Häuschen herum und ließ die Fingerspitzen über das rohe Holz gleiten. Das einzige Fenster war mit einer breiten Planke versperrt. Wieder klopfte er, härter; nur ein hohles Echo antwortete.
    Während er so unter dem verschalten Fenster hockte und sich verzweifelt fragte, ob er es vielleicht mit einem Stück Feuerholz aufbrechen könnte, ließ ihn ein raschelndes, schnappendes Geräusch aus der gegenüberstehenden Baumreihe vor Schreck so plötzlich in die Höhe fahren, dass sich sein Gesichtsfeld für einen Augenblick auf einen von Schwärze umgebenen Lichtkern verengte; er schwankte und fühlte sich übel. Der Zaun wölbte sich nach außen, als habe eine gewaltige Hand ihm einen Hieb

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