Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
versehentlich einen Freund gekränkt. Er starrte es einen Augenblick lang an und malte dann mit zerkratztem Finger feierlich die vertraute Schönschrift nach. Dann hielt er es hoch, damit Licht darauf fiel, kniff die Augen zusammen und las.
    »… darum ist es seltsam, wenn man bedenkt, dass gerade die Verfasser der Lieder und Geschichten, die Johans glänzenden Hof unterhielten, den König mit ihren Bemühungen, ihn in etwas Überlebensgroßes zu verwandeln, eher kleiner machten, als er wirklich war.«
    Beim ersten Durchlesen, als er den Text Wort für Wort entzifferte, verstand er überhaupt nichts; aber beim zweiten Mal hörte er den Tonfall von Morgenes heraus. Simon hätte fast gelächelt und vergaß für einen Moment seine schreckliche Lage. Er begriff immernoch sehr wenig von dem, was er las, aber er erkannte die Stimme seines Freundes.
    »Man betrachte zum Beispiel«, hieß es weiter, »seine Ankunft in Erkynland. Er stammte von der Insel Warinsten. Die Balladensinger behaupten immer, Gott habe ihn gerufen, den Drachen Shurakai zu erschlagen; er sei bei Grenefod gelandet, sein Schwert Hellnagel in der Hand, sein Sinn nur auf die große Aufgabe gerichtet.
    Doch obwohl es durchaus möglich ist, dass ein gütiger Gott ihn herbeirief, das Land von dem schrecklichen Untier zu befreien, so bliebe doch zu klären, wieso Gott es zuließ, dass besagter Drache erst einmal lange Jahre das Land verwüstete, bevor er ihm seine Nemesis schickte. Und natürlich erinnerten sich die, welche Johan in jenen Tagen kannten, sehr wohl daran, dass er Warinsten als schwertloser Bauernsohn verließ und als ebensolcher unsere Küsten erreichte; und ebenso wenig dachte er überhaupt an den Roten Lindwurm, bevor er fast ein Jahr in unserem Erkynland zugebracht hatte … «
    Es war ungemein tröstlich, Morgenes’ Stimme wieder zu hören, wenn auch nur im Kopf, aber der Inhalt des Absatzes verwirrte Simon trotzdem. Wollte Morgenes damit sagen, dass Johan der Priester den Drachen gar nicht getötet hatte, oder nur, dass Gott ihn nicht dazu auserwählt hatte? Wenn ihn aber unser Herr Usires im Himmel gar nicht auserkoren hatte, wie hatte er es geschafft, das Erzungeheuer zu besiegen? Hieß er beim Volk von Erkynland nicht »der von Gott gesalbte König«?
    Während er so nachdenklich dasaß, blies ein kalter Wind durch die Bäume herab und überzog Simons Arme mit Gänsehaut.
    Bei Ädons Fluch, ich muss einen Mantel oder sonst etwas Warmes zum Anziehen haben, überlegte er. Und mir darüber klar werden, wo ich hin will, anstatt hier herumzusitzen und wie ein Einfältiger über alten Schriften zu brüten.
    Offensichtlich war sein Plan vom Vortag, nämlich sich unter einer dünnen Schicht von Anonymität zu verstecken und in irgendeiner Dorfschenke Spießdreher oder Scheuerjunge zu werden, ein Ding der Unmöglichkeit. Ob die beiden Wachen, denen er entkommen war, ihn erkannt hatten oder nicht, war nicht mehr die Frage; hatten sie es nicht getan, würde es bei nächster Gelegenheit ein anderer tun. Simon war überzeugt, dass Elias’ Soldaten schon längst dieGegend nach ihm abkämmten. Schließlich war er nicht einfach ein entlaufener Diener, sondern ein Verräter und Schwerverbrecher. Schon mehrere Menschen hatten Josuas Flucht mit dem Leben bezahlt; wenn Simon der Erkyngarde in die Hände fiel, würde es kein Erbarmen geben.
    Wie konnte er entkommen? Wo sollte er hin? Wieder fühlte er Panik in sich aufsteigen und versuchte sie zu unterdrücken. Morgenes’ letzter Wunsch war es gewesen, dass er Josua nach Naglimund folgen sollte. Jetzt sah es tatsächlich so aus, als wäre das die einzig brauchbare Lösung. Wenn dem Prinzen die Flucht geglückt war, würde er Simon bestimmt gern aufnehmen. Wenn nicht, würden Josuas Lehnsleute ihm als Gegenleistung für Nachricht von ihrem Herrn sicher Zuflucht gewähren. Allerdings war es ein elend weiter Weg nach Naglimund. Simon kannte die Route und die Entfernung nur vom Hörensagen, aber niemand hatte sie je als kurz bezeichnet. Wenn er der Alten Forststraße weiter westwärts folgte, würde sie irgendwann die Weldhelmstraße kreuzen, die am Fuß des Gebirgszuges, nach dem sie benannt war, nach Norden führte. Wenn er den Weg zum Weldhelm fand, würde er zumindest in die richtige Richtung steuern.
    Mit einem vom Saum seines Hemdes abgerissenen Streifen schnürte er die Papiere zusammen, rollte sie zu einer Röhre und umwickelte sie mit dem Stoff, den er an den Enden sorgfältig verknotete. Dabei

Weitere Kostenlose Bücher