Der Drachenbeinthron
in das Holz geprägt. »Er ist voller Schnitzereien«, überlegte Simon laut.
»Diese Pfeile sind von großer Bedeutung«, bemerkte der Troll und streckte schüchtern die Hand aus. »Bitte, wenn du erlaubst?« Simon, in einem neuen Anfall von Schuldgefühlen, reichte ihm hastig den Pfeil. Binabik hielt ihn nach allen Seiten und ließSonnen- und Feuerschein auf ganz bestimmte Art und Weise darauf fallen. »Dieser ist einer von den Alten.« Er kniff die schmalen Augen zusammen, bis die dunklen Pupillen völlig verschwanden. »Es gibt ihn schon seit beträchtlich langer Zeit. Du bist jetzt der Besitzer eines höchst ehrenvollen Gegenstandes, Simon: Der Weiße Pfeil wird nicht leicht verliehen. Es scheint, dass dieser hier in Tumet’ai gefiedert wurde, einer Festung der Sithi, die schon vor langer Zeit unter dem blauen Eis im Osten meines Heimatlandes verschwunden ist.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Simon. »Kannst du die Buchstaben lesen?«
»Einige. Und es gibt noch andere Dinge, die ein geübtes Auge erkennen kann.«
Simon nahm den Pfeil wieder an sich, behandelte ihn jedoch weit achtsamer als zuvor. »Aber was soll ich damit anfangen? Du sagtest, er ist die Bezahlung einer Schuld?«
»Nein, Freund. Er ist das Zeichen einer Schuld, die noch unbeglichen ist. Was ich damit sagen will, ist, dass du den Pfeil gut aufbewahren solltest. Auch wenn er sonst keinen Zweck erfüllt, ist er doch köstlich anzuschauen.«
Über der Lichtung und dem Waldboden hinter ihr hing noch dünner Nebel. Simon lehnte den Pfeil mit der Spitze nach unten gegen den Baumstamm und rutschte näher ans Feuer. Binabik holte die Tauben aus der Glut, indem er sie mit zwei Stöcken in die Zange nahm, und legte eines der Bündel auf den warmen Stein vor Simons Knien.
»Entferne die gerollten Blätter«, belehrte ihn der Troll, »und warte dann eine kurze Zeit, damit der Vogel ein wenig abkühlt.« Simon fiel es schwer, den letzten Worten zu gehorchen, aber irgendwie schaffte er es doch.
»Woher hast du sie eigentlich?«, erkundigte er sich etwas später mit vollem Mund und vor Fett klebrigen Fingern.
»Ich zeige es dir nachher«, antwortete der Troll.
Binabik reinigte sich mit einem gebogenen Rippenknochen die Zähne. Simon lehnte sich am Stamm zurück und rülpste zufrieden.
»Mutter Elysia, das war wundervoll.« Er seufzte und hatte seitlanger Zeit zum ersten Mal das Gefühl, die Welt sei doch kein ganz so feindlicher Ort. »Ein bisschen Essen im Bauch macht doch alles anders.«
»Ich freue mich, dass deine Heilung sich so einfach bewirken ließ«, lächelte der Troll rund um den dünnen Knochen.
Simon strich sich die Leibesmitte. »Im Augenblick ist mir alles unwichtig.« Sein Ellenbogen streifte den Pfeil, der umzukippen drohte. Simon hielt ihn fest und richtete ihn wieder auf. Dabei kam ihm ein Einfall. »Ich fühle mich sogar nicht mehr schlecht wegen … wegen des Mannes von gestern.«
Binabik richtete die braunen Augen auf Simon. Obwohl er fortfuhr, in seinen Zähnen herumzustochern, legte sich seine Stirn über dem Nasenrücken in Falten. »Du hast kein schlechtes Gefühl mehr, weil er tot ist , oder du hast keines mehr, weil du ihn tot gemacht hast?«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Simon. »Was meinst du damit? Worin liegt der Unterschied?«
»Das ist ein so großer Unterschied wie zwischen einem gewaltigen Felsen und einem ganz winzig kleinen Käfer – aber ich werde es dir überlassen, darüber nachzudenken.«
»Aber …« Simon war von neuem verwirrt. »Aber … er war ein böser Mensch.«
»Hmmm.« Binabik nickte mit dem Kopf, aber die Geste deutete keine Zustimmung an. »Die Welt ist allerdings im Begriff, sich mit bösen Menschen zu füllen, daran kann es keinen Zweifel geben.«
»Er hätte den Sitha getötet!«
»Auch das ist eine Wahrheit.«
Simon starrte mürrisch auf den abgenagten Haufen Vogelknochen, der sich vor ihm auf dem Felsen stapelte. »Ich begreife dich nicht. Was möchtest du denn von mir hören?«
»Wohin du zu gehen beabsichtigst.« Der Troll warf seinen Zahnstocher ins Feuer und stand auf. Er war wirklich klein!
»Was?« Als Simon den Sinn der Worte des kleinen Mannes endlich verstanden hatte, schaute er ihn misstrauisch an.
»Ich würde zu wissen wünschen, wohin du gehst, damit wir vielleicht ein Stück gemeinsam reisen können.« Binabik sprachlangsam und geduldig wie mit einem geliebten, aber dummen alten Hund. »Ich denke, dass die Sonne vielleicht noch zu jung am Himmel
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