Der Drachenbeinthron
werdet, nämlich diese: Ehre ist etwas Wunderbares, aber sie ist ein Mittel, kein Ziel. Ein Mann, der ehrenvoll verhungert, hilft damit nicht seiner Familie; ein König, der sich in Ehren in sein Schwert stürzt, rettet damit nicht sein Reich.
Als Camaris genas, war er so voll Ehrfurcht für seinen neuen König, dass er von diesem Tage an Johans treuester Gefolgsmann wurde.«
»Und warum hast du mir das vorgelesen?«, fragte Simon. Er fühlte sich einigermaßen gekränkt von der Belustigung, die Binabik gezeigt hatte, als er ihm von dem üblen Verhalten des größten Helden in Simons Heimat vorlas – aber immerhin waren es Morgenes’ Worte gewesen, und wenn man es sich überlegte, machten sie den alten König Johan ein wenig menschlicher und der Marmorstatue Sankt Sutrins unähnlicher, die als Staubfänger an der Domfassade in Erchester stand.
»Es schien mir von Interesse zu sein.« Binabik lächelte ein Koboldlächeln. »Nein, das war nicht der Grund«, fügte er rasch hinzu, als Simon die Stirn runzelte. »Was ich wirklich wollte, war, dass du etwas einsiehst, und ich dachte, Morgenes könnte es dir besser klarmachen als ich.
Du wolltest die Männer von Rimmersgard nicht im Stich lassen, und ich begreife dein Gefühl – es war vielleicht nicht dieehrenhafteste Art von Benehmen. Aber es bedeutete auch für mich keine Ehre, meine Pflichten in Yiqanuc unerfüllt zu lassen; und doch müssen wir manchmal gegen die Ehre handeln – oder sollte man sagen, gegen das, was uns auf den ersten Blick ehrenhaft erscheint … verstehst du mich?«
»Nicht wirklich.« Aber aus Simons Stirnrunzeln wurde ein spöttisches, liebevolles Lächeln.
»Aha.« Binabik zuckte vielsagend mit den Schultern. » Ko muhuhok na mik aqa nop , sagen wir in Yiqanuc: ›Wenn es dir auf den Kopf fällt, weißt du, dass es ein Felsblock ist.‹«
Simon dachte geduldig darüber nach, während Binabik seine Kochutensilien in aller Ruhe in den Rucksack packte.
In einem Punkt hatte Binabik unzweifelhaft recht gehabt. Als sie den Bergkamm erreicht hatten, konnten sie buchstäblich nichts anderes sehen als die unendliche dunkle Weite des Aldheortes, der sich grenzenlos vor ihnen ausdehnte – ein grünschwarzes Meer, erstarrt in der Sekunde, bevor seine Wellen am Fuß der Berge anbrandeten. Allerdings schien das Alte Herz Simon eher ein Ozean zu sein, gegen den das Land vergeblich anstürmte.
Er konnte nicht umhin, vor Staunen tief Luft zu holen. Die Bäume unter ihnen erstreckten sich so weit in die Ferne, dass sie am Horizont im Nebel verschwanden, so als überschreite der Wald auf geheimnisvolle Weise die Grenzen der Erde.
Binabik, der seine großen Augen sah, meinte: »Von allen Zeitpunkten, an denen es wichtig ist, auf mich zu hören, ist dies der wichtigste: Wenn wir einander dort drin verlieren, wird es vielleicht kein Wiederfinden geben.«
»Ich war schon in diesem Wald, Binabik.«
»Nur an seinem Rand, Freund Simon. Jetzt aber betreten wir sein Inneres.«
»Quer durch?«
»Ha! Nein, das würde Monate dauern – ein Jahr, wer kann es wissen? Aber wir entfernen uns weit von seinen Grenzen, darum müssen wir hoffen, dass er uns gestattet, seine Gäste zu sein.«
Simon starrte hinab und fühlte ein Prickeln auf der Haut. Diedunklen, schweigenden Bäume, die düsterschattigen Pfade, die nie das Geräusch von Schritten vernommen hatten … all die Geschichten der Burgbewohner und Städter stiegen in seiner Fantasie auf und ließen sich nur allzu leicht ins Gedächtnis zurückrufen.
Und doch muss ich dorthin, dachte er, und ich glaube auch nicht, dass der Wald böse ist. Er ist nur alt … uralt. Und argwöhnisch gegenüber Fremden – oder wenigstens gibt er mir dieses Gefühl. Aber nicht böse.
»Gehen wir«, sagte er mit seiner klarsten, kräftigsten Stimme.
Aber als Binabik ihm den Berg hinunter voranlief, machte Simon auf seiner Brust das Zeichen des Baumes – nur um sicherzugehen.
Sie waren vom Berg hinuntergestiegen und näherten sich der Kette grasiger Hügel, die sanft zum Rand des Aldheortes hin abfiel, als Qantaqa plötzlich den zottigen Kopf schief legte und stehen blieb. Es war nach Mittag, die Sonne stand hoch am Himmel und hatte einen großen Teil des über dem Boden liegenden Dunstes weggebrannt. Simon und der Troll gingen zu der Wölfin, die reglos wie ein graues Standbild verharrte, und blickten sich nach allen Seiten um. Nirgends unterbrach eine Bewegung die erstarrte Wellenform des Landes.
Als sie näher kamen,
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